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Auf der Suche nach dem Ursprung der Ungleichheit

James Hope liebt die Philosophie, die Sterne und besetzte Häuser. Er wanderte von Australien nach Tübingen aus

  • Anna Dotti, Tübingen
  • Lesedauer: 9 Min.
James Hope lebt seit 46 Jahren in der Münzgasse 13. Nach Eigentum habe er nie gestrebt, sagt er. Das schüre die Ungleichheit.
James Hope lebt seit 46 Jahren in der Münzgasse 13. Nach Eigentum habe er nie gestrebt, sagt er. Das schüre die Ungleichheit.

Mit einem Lächeln zieht James Hope eine Pfeife aus der inneren Tasche seines Sakkos. Dazu eine Streichholzschachtel sowie eine zerschlissene Ledertasche, aus deren Löchern eine Metallschachtel des Tabaks der Marke Erinmore herausschaut. Die Utensilien legt er sorgfältig vor sich auf den Tisch, neben einen Teller voller Knochen. Das ist alles, was von den Hühnerschenkeln mit Bratkartoffeln übriggeblieben ist. »Das war gut!«, ruft er seinem Mitbewohner zu, der das Abendessen zubereitet hat. Zwischen den beiden ist ein Küchentisch und über ein halbes Jahrhundert Altersunterschied.

Mit seinen knorrigen Fingern hält er die Pfeife und pafft kleine, dichte Wolken in die Küchenluft. Die teilt er mit den anderen. Seinen Platz aber nicht, zumindest wenn er im Raum ist. Da ist er eigen. James Hope wohnt seit 46 Jahren direkt neben der Stiftskirche in der Tübinger Innenstadt, in einem denkmalgeschützten Haus aus dem 16. Jahrhundert.

Am 27. Februar 1977 wurde das Gebäude in der Münzgasse 13 besetzt. Einen Tag später ist James Hope eingezogen. Seitdem lebt er an derselben Adresse, im selben Zimmer. Von den ehemaligen Besetzer*innen ist er als Einziger geblieben. Das verwinkelte Gebäude auf drei Etagen teilt er sich heute mit 21 Menschen, die zwischen 7 und 51 Jahre alt sind. Mit seinen 86 Jahren ist er der mit Abstand älteste Bewohner.

Vor dem Abendessen holt er noch eine Plastiktüte von Aldi aus seinem Zimmer im Erdgeschoss und trägt sie nach oben. Im Wohnzimmer neben der Küche wischt er mit der Hand einen Tisch frei und packt dann den Inhalt aus. Vergilbte farbige Seiten der Kinderzeitschrift »The Champion«, die Mitte der 1940er Jahre herausgekommen ist. »Schon als Kind habe ich gerne alles aufgehoben«, sagt er mit seinem starken englischen Akzent. James Hope wurde am 3. Juni 1936 in Melbourne geboren, diese Hefte sind die ältesten Erinnerungsstücke aus seiner Kindheit. Aber bei Weitem nicht die ältesten Druckwerke in seinem Besitz.

Mit dem Schiff kam er 1962 aus Australien nach Deutschland. Wie viele Länder er auf dieser ersten Reise nach Europa gesehen hat, kann er nicht mehr genau rekonstruieren. Der Faden seiner Erzählung reißt, seine Gedanken springen in der Zeit hin und her. Manche Wörter nuschelt er in seinen langen weißen Bart hinein. Doch das Ziel seiner Reise stand damals fest, daran erinnert er sich noch genau: Tübingen.

Als Teenager hatte James in der Textilfabrik seines Vaters gearbeitet. Mit dem verdienten Geld kaufte er sich ein Radio und hörte sich damit in der Welt um. So entdeckte er sein Interesse für Sprachen, 30 davon habe er bisher gelernt, sagt er. Sein Lieblingssender war damals die Deutsche Welle. Nach der Schule studierte er dann Germanistik in Melbourne. Einer seiner ehemaligen Professoren hatte die Universität in Tübingen besucht und ihm davon vorgeschwärmt. Dort wollte er promovieren. Und dort hörte er Ernst Bloch reden. Der marxistische Philosoph lehrte damals an der Universität in Tübingen.

An einem Freitagnachmittag steht James Hope in seinem Zimmer und sucht. Hinter ihm, vor ihm, links und rechts: Bücher, Zeitungen, Zeitschriften. In dem 20 Quadratmeter großen Zimmer bleibt sonst nur noch wenig Platz: ein Bett, ein Stuhl, ein Schreibtisch, ein Stapel Medikamente, ein Fernglas. Nur ein schmaler Durchgang bleibt als Weg zur Tür. Der Rest des Raums gehört dem Papier, das sich fast bis zur Decke stapelt. Von manchen Büchern hat James Hope mehrere Exemplare angesammelt, weil er nicht mehr wusste, ob er sie schon besaß. Sicher war nur, er wollte sie lesen. Doch von dem, was er gerade sucht, weiß er ganz sicher, dass er es hat. Davon gibt es nicht viele weltweit.

Die Münzgasse 13 ist seit der Besetzung 1977 ein Wohnprojekt in Tübingen.
Die Münzgasse 13 ist seit der Besetzung 1977 ein Wohnprojekt in Tübingen.

Neben einer Reihe dicker Bände des Gesamtwerks von Marx und Engels zieht er aus dem staubigen Regal ein Büchlein. Er dreht den festen Buchumschlag und blättert die leere erste Seite feinen, glatten Papiers um: »Du contrat social ou principes du droit politique«, J. J. Rousseau, Amsterdam, MDCCLXII. Ein Exemplar der ersten Auflage des bekanntesten Werks des französischen Philosophen: »Der Vater des Sozialismus, mein Lieblingsphilosoph«, sagt er. Nach der Begegnung mit Ernst Bloch entschied er sich doch für ein Philosophiestudium.

Im »Discours sur l’inégalité«, einem früheren, weniger bekannten Buch, theoretisiert Rousseau den Übergang vom Naturzustand zur bürgerlichen Gesellschaft anhand eines bestimmten Moments: der Schaffung des Privateigentums. Der Ursprung der Ungleichheit zwischen den Menschen. In diesem Sinne stellen Besetzungen einen Versuch dar, Gleichheit zwischen den Menschen wiederherzustellen. James Hope hat sein Zuhause besetzt. Zweimal sogar.

»Einiges habe ich nicht mitbekommen hinter meinen Büchern«, sagt er, deshalb sei er erst am zweiten Tag der Besetzung 1977 in die Münze 13 eingezogen. Er trug einen Schlafsack und mehrere Bücher mit sich. In seinen besten Zeiten habe er bis zu 200 Bände pro Jahr gelesen, erzählt er. Seine erste Aktion nach dem Umzug war: Regale für seine Sammlung zu bauen. Das hat sechs Wochen gedauert, danach war er mit seinem neuen Zuhause zufrieden. Eine eigene Wohnung wollte er nie. Doch jetzt könnte es sein, dass das Haus ihm bald mitgehört.

»Ihr kriegt uns hier nich’ raus! Das ist unser Haus ...«: Am 27. Februar 2021 schallt aus den Fenstern der Rauch-Haus-Song von Ton Steine Scherben. Aus dem Fenster in der zweiten Etage blickt James Hope hinunter zur Straße, neben ihm hängt ein Banner, darauf steht: »Die Münzgasse 13 ist besetzt«. Die Bewohner*innen haben sich entschieden, die Zahlung der Miete an den Studentenwerk-Verein einzustellen, dem das Gebäude gehört.

James Hope und seine Mitbewohner*innen kritisierten schon lange, dass der Verein die Bausubstanz des Hauses verfallen lasse. Jahrelang hätten sie das Studentenwerk darum gebeten, das Haus übernehmen zu können, um sich selbst darum zu kümmern – »um selbstverwaltetes Leben zu sichern und auszubauen«, wie es auf der Internetseite des Wohnprojekts heißt. Die zweite Besetzung dauerte bis Oktober 2022. Sie hatte Erfolg.

Das Studentenwerk ist bereit, das Haus bis zum Jahresende abzugeben – auch das Einwirken der Stadtverwaltung und des Landes hat zu dieser Entscheidung geführt. Als Teil des Miethäusersyndikats sammeln die Bewohner*innen gerade Direktkredite von Privatpersonen und Gruppen, um das Gebäude zu kaufen und zu sanieren. Ob der Kauf gelingt, ist noch nicht sicher. Die Hausgemeinschaft muss rund eine Million Euro an Eigenkapital beschaffen, bislang hat sie etwas mehr als 450 000 Euro zusammen. Aber dass eine Kaufoption besteht, ist ein großer Erfolg der Hausgemeinschaft – den James Hope allerdings nur im Bett liegend feiern konnte.

Mitte September 2021 erlitt er nämlich einen Herzinfarkt und verbrachte über einen Monat in Tübinger Kliniken. Als er zurückkam, wurde sein Leben anders. Plötzlich war er nicht mehr in der Lage, alleine aus dem Bett zu kommen – und das in einem Haus voller Stufen. Seine Mitbewohner*innen haben sich organisiert, um ihn zu pflegen. Er hat einen SOS-Knopf bekommen, per App ist er mit den Smartphones seiner Mitbewohner*innen verbunden. In einer Excel-Tabelle hatten sie sich anfangs in Schichten eingeteilt, für die Rufbereitschaft und für andere Aufgaben. Zum Beispiel: Kartoffelpüree zum Mittagessen zubereiten oder die »New York Times« am Nachmittag besorgen.

Ohne seine Zeitungen verbringt er keinen Tag: »New York Times«, »Taz«, »The Guardian« und das »Schwäbische Tagblatt«. Nur gedruckte Ausgaben. Er besitzt keinen Computer, kein Smartphone, kein Handy. »Ich bin ein bisschen altmodisch«, sagt er. Zum festen Leseprogramm gehören auch Magazine, wie die englischsprachige Zeitschrift »Astronomy«. Als Kind wollte er Astronom werden. Heute guckt er noch immer gerne auf der Dachterrasse des Hauses in den nächtlichen Himmel.

Die Excel-Tabelle wird inzwischen nicht mehr gebraucht. James Hope muss zwar zum Frühstück sieben Pillen nehmen – für Herz, Nieren und Leber –, er kann sich aber wieder alleine bewegen. Inzwischen sind drei seiner Mitbewohner*innen von ihm offiziell zur Pflege bevollmächtigt worden. Das hat ihnen ermöglicht, einen Pflegeplan mit externer Unterstützung zu organisieren.

Dreimal die Woche bekommt er gekochtes Essen geliefert, zweimal besucht ihn Pflegepersonal und einmal eine häusliche Pflegerin. Um den Rest kümmert sich weiterhin die Wohngemeinschaft, sei es das Videotelefonat mit seinem jüngeren Bruder in Australien, der Bankbesuch oder das Kartoffelkochen. Inzwischen hat er wieder genug Kraft, um sich seiner Arbeit zu widmen.

Am Dienstag ist James Hope aufgeregt. Seit 1999 spricht er jeden Dienstag über Wetter und Weltpolitik beim Freien Radio Wüste Welle. Wie die anderen Moderator*innen dieses unabhängigen Mediums bekommt er für seinen Beitrag kein Geld. Er bezeichnet das trotzdem als Arbeit. Lesen, schreiben, sich mit Politik auseinandersetzen, in Tübingen und überall: Das ist die Beschäftigung, die er sich für sein Leben ausgesucht hat. Mit einer Rente, die er aus Australien bezieht, kommt er über die Runden.

Zwischen dem Lokalradio in der Tübinger Südstadt und der Münzgasse liegen drei Kilometer. Vor seinen Klinikaufenthalten ist James die Strecke gelaufen, jetzt geht das nicht mehr. Viertel vor eins steht er vor den Busfahrplänen auf der Tübinger Eberhardsbrücke. Er hebt die rechte Hand, um sich gegen die Sonne abzuschirmen und liest: Der Bus kommt in einer Viertelstunde. An der Haltestelle gibt es keine Sitzmöglichkeiten. Schlecht: James kann im Stehen die Pfeife nicht stopfen.

Um eins ist der Bus da, um zwanzig nach steigt James aus. Zum Radio sind es noch 300 Meter. Er läuft. Aufrecht, gerade, nicht schnell, nicht langsam. Nach 30 Schritten kippt er aber zur Seite, stützt sich gegen eine Wand, bleibt stehen, blickt auf den Boden, atmet tief ein und aus. Ein paar Minuten, und es geht weiter: nochmals 30 Schritte, Pause an einem Lichtmast. Dann weiter: Rast an einem Auto. Weiter: Lehnen an eine Regenrinne. Weiter: Treppengeländer, Treppengeländer, Treppengeländer. Weiter: noch eine Wand. Warum benutzt er eigentlich keinen Gehstock? »Entweder gehe ich oder ich gehe nicht«, antwortet er.

Um zwanzig vor zwei lässt er sich auf einen Stuhl vor dem Eingang zum Radio fallen. Er nimmt aus der inneren Tasche seines Wintermantels eine Ausgabe von »Astronomy«. Das Cover ist an den Rändern beschädigt, die Ausgabe ist von 2004. Er zieht ein Blatt Papier daraus hervor, nur ein Viertel davon ist mit einer sehr kleinen Handschrift beschrieben. Er fängt an, seinen Radiobeitrag zu lesen. Noch hat er Zeit. In das Studio geht er erst gegen halb drei.

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