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Ukraine-Krieg: Spiel mit der Angst
Kiew wie Moskau verbreiten Desinformationen zur Lage des AKW Saporischschja
Seit 16 Monaten kontrollieren russische Besatzer das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja. Noch nie zuvor ist im Rahmen von Kampfhandlungen ein AKW besetzt und sind dessen Mitarbeiter praktisch als Geiseln genommen worden. Vor allem in den ersten Kriegsmonaten wurde das Werk immer wieder angegriffen. Kiew und Moskau schieben sich dafür die Verantwortung gegenseitig zu.
Das in Enerhodar etwa 50 Kilometer südwestlich von Saporischschja gelegene AKW versorgte einst den gesamten Süden des Landes mit Energie. Nach mehreren Notabschaltungen wurden im September 2022 fünf Meiler heruntergefahren, einer läuft im sogenannten Inselbetrieb, um den Strombedarf des AKW selbst zu sichern. Bislang sind alle Bemühungen, eine entmilitarisierte Zone um die Nuklearanlage zu errichten, fehlgeschlagen.
Nicht ganz so erfolglos waren bislang Desinformationskampagnen, bei denen die Atomfabrik im Mittelpunkt steht. Die jüngste löste der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj selbst aus. Ende Juni erklärte er, sein Land und ganz Europa stehe vor einer beispiellosen Bedrohung, denn: Russland habe das besetzte Kernkraftwerk mit Sprengladungen gespickt. Würden die gezündet, könnte die austretende Strahlung weite Teile der Ukraine und Westeuropas verseuchen.
Praktisch wäre das nur schwer zu bewerkstelligen. Deshalb nach Beweisen gefragt, erklärte der ukrainische Generalstab nur, man wisse, dass an zwei der sechs Reaktorgebäuden »etwas« platziert wurde. Das sehe aus wie Sprengsätze. Die Russen hätten alles so hergerichtet, dass eine Explosion den Eindruck eines ukrainischen Angriffs erwecken könnte. Diesem apokalyptischen Bild fügte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow, ein paar düstere Farben hinzu. Der Sabotageakt sei von Moskau bereits genehmigt, sagte der General der britischen Wochenzeitung »The New Statesman«. Jeden Tag könne der Terrorbefehl an die russischen Truppen ausgegeben werden.
Am 30. Juni meldete Kiews Militärgeheimdienst, man habe erfahren, dass sowohl russische Sicherheitskräfte als auch Werksarbeiter das AKW-Gebiet bis zum 5. Juli zu verlassen hätten. Die nun auch terminierten Warnungen fanden zusätzliches Medieninteresse, nachdem Selenskyj seinen französischen Amtskollegen Emmanuel Macron bei einem Telefonat vor »gefährlichen Provokationen« warnte, die Russlands Truppen am Kernkraftwerk vorbereiten würden.
Die Verantwortlichen in Kiew schürten bewusst jene Angst, die sich nach der 1986er Explosion im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl über Westeuropa gelegt hatte. Was sagt die internationale Atomenergiebehörde IAEA dazu? Die hat das Atomkraftwerk wiederholt besucht und unterhält seit September 2022 eine permanente Beobachtermission vor Ort. Man habe zusätzlichen Zugang zum Gelände des ukrainischen Kernkraftwerks Saporischschja erhalten, »ohne bisher sichtbare Anzeichen von Minen oder Sprengstoff zu beobachten«, erklärte Generaldirektor Rafael Mariano Grossi erst am vergangenen Freitag und machte sich damit keine Freunde in Kiew.
Grossi zufolge konnten IAEA-Mitarbeiter die Dächer der Anlage bislang nicht besichtigen. »Ich bin ziemlich zuversichtlich, dass wir diese Genehmigung erhalten werden«, führte der IAEA-Chef fort. »Das ist ein Kampfgebiet, ein aktives Kriegsgebiet, daher kann es manchmal ein oder zwei Tage dauern, diese Genehmigungen zu erhalten.«
Bereits zuvor hatte Selenskyjs Berater Mychajlo Podoljak den um Sachlichkeit bemühten IAEA-Chef attackiert. Grossi hätte nur »herumgealbert«. Wenn es nun zu einer Katastrophe komme, »dann wird er sagen, dass sie nichts damit zu tun hatten und ja vor allen Gefahren gewarnt haben«.
Wie beurteilt Moskau die von Kiew benannte Gefahr? In schon gewohnter Art griffen russische Medien die Horrorwarnungen auf – nur spiegelverkehrt. Via Telegram wurde am 4. Juli berichtet, dass die Ukraine das AKW in der Nacht des 5. Juli attackieren wolle. Kiews Truppen, so hieß es beim Messaging-Dienst, würden die Reaktoren mit Raketen angreifen und dabei eine sogenannte »schmutzige Bombe« abwerfen, die eine große Menge radioaktives Material freisetzt.
So wenig glaubwürdig diese Behauptungen auch sind, Renat Karchaa, ein Experte aus der Chefetage des russischen Kernkraftwerksbetreibers Rosenergoatom, fügte sich willig ein in die mediale Märchenwelt. Auch die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, warnte vor dem bevorstehenden ukrainischen Terroranschlag. Warum sonst habe man in der ukrainischen Hauptstadt zusätzliche Messgeräte installiert?
Alle bislang prognostizierten Terror-Termine verstrichen. Passiert ist – zum Glück – nichts. Wie kann das sein? Schaut man (was einige Überwindung kostet) in das russische Massen-Blatt »Moskowski Komsomolez«, bekommt man eine aberwitzige Antwort. Russischen Diplomaten sei es quasi in letzter Minute gelungen, westliche Staats- und Regierungschefs zu erreichen. Die hätten dann Selenskyj davon überzeugt, das Leben von Hunderttausenden Menschen zu verschonen. Nur die Briten, »die viele Experten für die Urheber dieser ganzen ›nuklearen Idee‹ halten, hätten Selenskyi nicht zur Aufgabe seiner Pläne geraten. Die «Komsomolzen» ahnen auch warum: «London ist nicht abgeneigt, seine einstige Größe auf den Ruinen des alten Europas wiederzubeleben.»
Wahrheit und Dichtung liegen auch bei diesen Manipulationsversuchen dicht beisammen. Etwa wenn berichtet wird, dass die USA ein speziell zum Erschnüffeln radioaktiver Spuren ausgerüstetes Aufklärungsflugzeug nach Europa verlegt haben. In der Tat wurde – vermutlich in Vorbereitung des Nato-Gipfels am Dienstag und Mittwoch in der litauischen Hauptstadt Vilnius – eine WC-135R-Boeing nach England verlegt. Das Auftauchen der Maschine in Europa sei ein «äußerst seltenes Ereignis und könnte darauf hindeuten, dass die Amerikaner etwas über Kiews ›nukleare‹ Pläne wissen und sogar bereit sind, bei Selenskyjs Aktion mitzuspielen», behauptet «Moskowski Komsomolez».
Die Gefahr sei also nicht gebannt, liest man weiter. Und auch, dass die Ukraine an dem von ihr beherrschten rechten Ufer des Dnjepr Videokameras installiert habe, «um den Beschuss des Kernkraftwerks live zu übertragen». Dieser «Showeffekt» sei dann ähnlich jenem Moment, als Flugzeuge in die New Yorker Twin Towers stürzten …
Man könnte sich einfach abwenden – hätte Präsident Selenskyj nicht einen maßgeblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Nato und hätte die russische Boulevard-Zeitung keine tägliche Auflage von rund 750 000 Exemplaren.
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