- Politik
- Ägypten
»Eine große Migrantenwelle«
Sanaa Seif spricht über die Bedingungen in ägyptischen Gefängnissen und die politische Lage
Ihr Bruder Alaa Abdel Fattah war eine Führungsfigur während des Aufstands gegen Ägyptens Langzeitherrscher Hosni Mubarak, saß wegen seines politischen Engagements oft im Gefängnis. Die letzte Verurteilung zu fünf Jahren Haft wegen Fake News erhielt er 2021. Sie besuchen ihn regelmäßig im Gefängnis, wie geht es ihm?
Ich sehe ihn einmal im Monat hinter einer Glasscheibe, wir sprechen über Telefonhörer miteinander. Und jede Woche bringe ich Essen, frische Wäsche, Zeitschriften und Bücher vorbei und bekomme von ihm einen Brief. Seine Haftbedingungen haben sich sehr verbessert in den vergangenen sechs Monaten. Er wurde verlegt: aus dem schrecklichen Hochsicherheitsgefängnis namens Skorpion in ein neues Gefängnis. Bis dahin saß Alaa in diesem Guantanamo ähnlichen Knast. Dort hat man ihm alles verweigert; nicht mal eine Uhr hatte er, um die Tageszeit zu wissen. Letztes Jahr war er in einem schrecklichen Zustand und wurde verlegt in dieses neu gebaute Gefängnis mit Namen Wadi Al-Natrun in der Wüste zwischen Kairo und Alexandria.
Und was ist neu an dem Gefängnis?
Sie nennen es Haftanstalt nach amerikanischem Stil. Es ist eine Rehabilitationseinrichtung. Wegen der neuen Menschenrechtsstrategie der ägyptischen Regierung werden neue Gefängnisse »Rehabilitationseinrichtung« getauft. Zum Glück ist mein Bruder in einer guten Einrichtung gelandet, die man auch Ausländern vorführt. Ich habe das erste Mal von diesem Gefängnis gehört, als ich selbst inhaftiert war, und zwar in einem Fernsehwerbespot.
An wen war diese Werbung gerichtet?
Für mich war das einer dieser absurden Momente im Leben, einfach nur kafkaesk: Sie haben uns Fernsehwerbung über ein Gefängnis gezeigt, in das wir gar nicht kommen sollten, über den schönen Ort, den du nie genießen würdest (lacht) Der Werbespot ist auf Youtube, und sie haben ihn auch für eine Zeit auf den nationalen Fernsehkanälen gezeigt. Der Staat ist sehr stolz darauf. Verglichen mit dem Ort, wo mein Bruder vorher war, ist das eine Verbesserung. Das gibt mir die Bestätigung, dass der Druck, den wir machen, funktioniert. Alaa wurde nicht aus wohltätigen Motiven in die neue Rehabilitationseinrichtung amerikanischen Stils verlegt. Er war in dem schrecklichen Guantanamo und dann wurde er in das PR-Gefängnis verlegt – wegen unserer Bemühungen und der Solidarität der Menschen. Jetzt hat er dort ein Fenster, sieht die Sonne und kann Zeit außerhalb seiner Zelle verbringen. Er darf Musik hören und Bücher lesen. Das macht wirklich einen Unterschied für die Lebensqualität – und den Gefängnisaufenthalt für ihn erträglich.
Wann kommt ihr Bruder frei?
Er wurde 2019 verhaftet und Ende 2021 zu fünf Jahren Haft verurteilt. Die zweieinhalb Jahre Untersuchungshaft wurden nicht angerechnet. Es gab keinen ordentlichen Prozess. Das Urteil wurde von einem Sondergericht ausgesprochen und musste dann von der militärischen Führung schriftlich bestätigt werden. Und seine Haftstrafe beginnt mit dieser Unterschrift, das heißt, seine Freilassung ist 2027; würden sie die Untersuchungshaft mitzählen, wäre Alaa nächstes Jahr frei. Wir versuchen, da Druck zu machen.
Ist das nicht klar im Gesetz festgelegt?
Ist es, wenn man die Chance hätte, vor einem Gericht zu argumentieren und das durchzusetzen. Aber es ist ein Sondergericht, bei dem es kein Recht auf Einspruch gibt. Während der Untersuchungshaft hat ein Richter die Freilassung von Alaa angeordnet, aber die Staatsanwaltschaft legte Einspruch dagegen ein. Ein anderer Richter gab dem Einspruch statt, und Alaa kam doch nicht frei. Alle 45 Tage muss die Untersuchungshaft erneuert werden. Alaa kam vor denselben Richter, der ihn freilassen wollte: »Ich habe versucht, dich beim letzten Mal freizulassen, ich kann das nicht länger tun.« Es geht nicht wirklich um die Gesetze, unser Justizsystem hat seine Unabhängigkeit verloren.
Sie waren selbst im Gefängnis. Wie schwer ist es, so ein Leben zu führen?
Ich denke immer, dass das nur vorübergehend ist. Ich warte darauf, dass mein richtiges Leben beginnt, nachdem diese Ausnahmesituation endet. Aber wenn du zurückblickst, siehst du: Wir leben seit neun Jahren in dieser Ausnahmesituation.
Wie kann Abdel Fattah Al-Sisi sich so lange an der Macht halten?
Niemand ist glücklich mit Al-Sisi, aber über mehrere Jahre galt er als akzeptabel. Diese Ära haben wir aber überwunden. Er war populär. Wir hatten niemals freie Wahlen. Ich bin sicher, wenn er sich 2014 freien Wahlen hätte stellen müssen, hätte er gewonnen. Bis 2018 hatte er eine breite Basis von Unterstützern. 2019 wurde es offensichtlich, dass er diese Unterstützung verloren hat. Es bleibt ihm nur noch diese kleine verrückte Basis, die von ihm profitiert. 2019 war das erste Mal, dass man durch Kairo lief und es ganz normal war, in der U-Bahn schlecht über den Präsidenten zu sprechen. Man musste damals noch erwarten, dafür verbal angegriffen zu werden. Das ist jetzt ganz vorbei.
Beruht seine Macht nur auf Repression?
Die ersten Jahre basierten auf der freiwilligen Unterstützung durch die Bevölkerung. Er sagte, er würde das Land vor Extremismus bewahren: Genug mit diesen Revolutionen, genug mit der Instabilität und den Aufständen. Lasst uns Stabilität schaffen und wirtschaftlichen Wohlstand. Das war seine Legitimität. Aber sein wirtschaftliches Versagen hat die Situation grundlegend geändert. Seit die Regierung 2016 angefangen hat, das ägyptische Pfund freizugeben und abzuwerten, sind die Preise und die Inflation massiv gestiegen. Und die Mega-Infrastrukturprojekte – der neue Suezkanal, die neue Verwaltungshauptstadt – zahlen sich nicht aus.
Was hält ihn noch an der Macht?
Jetzt stützt er sich auf Waffen, er hat die Armee und er hat den Staat. Und er hat andere staatliche Institutionen geschwächt. Es ist beispiellos, wie hilflos die Justiz geworden ist. Es gab immer Probleme mit dem Justizsystem, aber eine gewisse Unabhängigkeit hatte es sich bewahrt. Mein Bruder wurde 2006 verhaftet, weil er eine Bewegung von Richtern unterstützte, die für eine unabhängige Justiz gekämpft haben. Unsere staatlichen Institutionen hatten in der Vergangenheit immer noch eine gewisse Freiheit, das ist nicht mehr so. Al-Sisi hat die Waffen, er hat den Staat und internationalen Rückhalt.
Nur im Westen?
Nicht nur, auch in der Region: Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Katar sind seine Sponsoren. Der israelische Staat unterstützt das ägyptische Militär, egal wer regiert, und Netanjahu stützt Al-Sisi.
Wo hat der Westen Fehler gemacht?
Sanaa Seif ist eine ägyptisch-britische Filmemacherin, politische Aktivistin und Schwester des in Ägypten inhaftierten Bloggers Alaa Abdel Fattah, für dessen Freilassung sie sich einsetzt. Seif selbst war unter Al-Sisis Regime dreimal inhaftiert und saß insgesamt über drei Jahre im Gefängnis.
Sie haben falsch kalkuliert und Blankoschecks ausgestellt und diesem Diktator einen Haufen Waffen geschickt, damit er die Grenzen in Afrika dicht hält. Statistiken zeigen, dass die Anzahl der Migranten aus Ägypten nach Europa dramatisch gestiegen ist. In unsere Wirtschaftskrise sind auch westliche Regierungen involviert, speziell Frankreich und Deutschland. Ägypten war für einige Jahre der Hauptabnehmer deutscher Waffen. Diese Waffen konnten wir uns aber nicht leisten, das sehen wir jetzt. Ich möchte diese Schulden gestrichen sehen, denn das ägyptische Volk hatte dabei kein Wort mitzureden. Und ich wünsche mir, dass westliche Politiker und Diplomaten aufhören, davor zurückzuschrecken, die Menschenrechtssituation anzusprechen. Deutschland könnte dies vor den UN-Menschenrechtsrat in Genf bringen. Wir brauchen nicht viel, um zivilgesellschaftlichen Raum zum Atmen zurückzugewinnen. Falls das nicht passiert, muss der Westen sich auf eine große Migrantenwelle einstellen, die er so bislang noch nicht gesehen hat. Wenn Syrien schon beängstigend war für Deutschland und Europa: Wir sind 100 Millionen Menschen.
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.