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»Die Taliban zu isolieren, führt in eine Sackgasse«
Regionaldirektorin der Welthungerhilfe: Afghanistan ist einer der Hunger-Hotspots der Welt
Sie sind gerade aus Afghanistan zurückgekehrt. Wie ist die humanitäre Lage?
Laut Welternährungsprogramm und anderen UN-Organisationen können sich bis zu 90 Prozent der Bevölkerung nicht mehr gesund ernähren, zwei Drittel der Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Afghanistan gehört derzeit zu den sechs schlimmsten Hunger-Hotspots der Welt.
Was hat zu dieser Situation geführt?
Das Land ist von multiplen und komplexen Krisen betroffen. Afghanistan ist sozusagen der »perfekte Sturm«. Im Land herrscht bereits seit Jahren eine Dürre, die Ernten vernichtet. Das Klimaphänomen El Niño könnte zwar dazu führen, dass es bald heftige Niederschläge gibt. Allerdings werden die ausgetrockneten Böden das Wasser wohl nicht aufnehmen können. Überschwemmungen und weitere Ernteverluste werden die Folge sein. Zur Dürre kamen Corona und dann vor knapp zwei Jahren die Machtübernahme der Taliban. Allein im Jahr 2021 ist die Wirtschaft deshalb um rund 30 Prozent eingebrochen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Lage weiter verschärft.
Welche Folgen hat die Corona-Pandemie?
Das Gesundheitssystem in Afghanistan ist katastrophal. Es gab kaum Prävention und so gut wie keine Impfungen. Das Virus hat sich deshalb so schnell in der Bevölkerung verbreiten können. Entsprechend viele Menschen sind gestorben. Corona hat in vielen Familien den einzigen Ernährer getötet und so die Einkommens- und Ernährungslage der Bevölkerung weiter dramatisch verschlechtert.
Und welche Auswirkungen hat der Krieg in der Ukraine?
Das Welternährungsprogramm hat Getreide und Speiseöl aus der Ukraine bezogen. Mit Beginn des Krieges wurden die Lieferketten zunächst unterbrochen. Drastische Preissteigerungen führten dazu, dass es deutlich teurer wurde, Menschen zu versorgen. Zudem liegt die politische Aufmerksamkeit der EU, der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft jetzt klar auf der Ukraine. Afghanistan ist in Diplomatie und Politik aus dem Fokus geraten. Leider gehen die meisten Experten davon aus, dass die humanitäre Situation sich in den nächsten Monaten weiter verschlechtern wird.
Warum glauben Sie das?
Unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban hat die internationale Gemeinschaft das Land zunächst stark unterstützt. Man wollte zwar die Taliban nicht stärken, wusste aber auch, dass man die Bevölkerung nicht im Stich lassen konnte. Darum wurden Wege gefunden, wie man an den neuen Machthabern vorbei UN- und Nichtregierungsorganisationen finanzieren konnte, die sich um humanitäre Hilfe, Gesundheitsförderung und Bildung kümmerten. Aber jetzt ist der finanzielle Bedarf dieser Organisationen viel höher als die bisherigen Zusagen.
Warum nimmt die Hilfsbereitschaft ab?
Vor der Machtergreifung der Taliban wurden rund 75 Prozent des afghanischen Staatshaushaltes von der internationalen Gebergemeinschaft finanziert. Diese Mittel standen von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Verfügung. Weil die Taliban die Menschen-, vor allem die Frauenrechte extrem einschränken, ziehen sich immer mehr Geber zurück nach dem Motto: Wenn die Taliban sich nicht um die Menschenrechte scheren, setzen wir die begrenzten Mittel woanders ein.
Und die Bevölkerung zahlt die Rechnung?
Ja, leider. Das Welternährungsprogramm, das in den letzten Jahren Millionen Menschen versorgt hat, hat gerade bekannt gegeben, dass ihm im September das Geld ausgeht, es voraussichtlich ab Oktober in Afghanistan niemanden mehr versorgen kann. In den letzten beiden Monaten mussten jeweils vier Millionen Menschen aus der Versorgung rausgenommen und Rationen reduziert werden.
Hat Ihre Organisation nach der Machtübernahme der Taliban darüber nachgedacht, sich aus Afghanistan zurückzuziehen?
Wir arbeiten seit Anfang der 90er Jahre mit einem eigenen Büro in Afghanistan. Auch unter der ersten Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 waren wir vor Ort. Aber als die Taliban vor zwei Jahren erneut die Macht übernahmen, haben wir uns natürlich gefragt: Was können wir unter den neuen Rahmenbedingungen noch machen? Bleiben oder zurückziehen – beide Optionen lagen auf dem Tisch. Aber uns war schnell klar: Die Bevölkerung braucht unsere Unterstützung jetzt dringender denn je. Wir arbeiten in vielen Ländern unter sehr schwierigen Rahmenbedingungen und finden immer einen Weg zu helfen. Darum haben wir uns sehr schnell fürs Bleiben entschieden.
Wie arbeiten Sie jetzt in Afghanistan?
Wir sind derzeit mit rund 200 nationalen und sechs internationalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vor Ort. Wie für fast alle internationalen Organisationen waren wir nicht wirklich auf den schnellen Fall Kabuls am 15. August 2021 vorbereitet. Wir haben zwei bis drei Monate gebraucht, um uns neu aufzustellen. Zuvor haben wir vor allem langfristige Entwicklungszusammenarbeit in den Bereichen Landwirtschaft, Ernährungssicherung, Ressourcenschutz und Berufsbildung betrieben. Doch die internationalen Geber wollen diese Zusammenarbeit mit den Taliban nicht. Darum haben wir unser Programm in sehr kurzer Zeit fast komplett auf humanitäre Hilfe umgestellt. Der Bedarf war riesig.
Wie helfen Sie jetzt in Afghanistan?
Zunächst haben wir hauptsächlich Nahrungsmittel verteilt, vor Einbruch des harten Winters auch Heizmittel und warme Kleidung. Wir haben allerdings bald auf Bargeldverteilungen umgestellt. Das ist einfacher und effizienter und stützt die heimische Wirtschaft. Die Märkte vor Ort funktionieren. Außerdem wissen die Menschen selbst am besten, was sie brauchen.
Was machen Sie noch?
Wir stellen Bäuerinnen und Bauern Saatgut, Dünger, Hühner, Futter für Ziegen und landwirtschaftliche Geräte zur Verfügung und unterstützen sie darin, Getreide anzubauen und Gemüsegärten anzulegen. Damit versetzen wir sie in die Lage, besser selbst für sich zu sorgen. In sogenannten »Cash for work«-Programmen erhalten Menschen Geld dafür, dass sie zum Beispiel Bewässerungssysteme wieder instandsetzen.
Wie geht es den Frauen und Mädchen?
Die Herrschaft der Taliban hat für sie katastrophale Folgen. Besonders radikale Kräfte unter ihnen wollen die Frauen komplett aus dem öffentlichen Leben verbannen. Die Taliban wollen so die Identität der Frauen eliminieren. Darunter leiden sie natürlich extrem, weil ihnen ihre Perspektiven und Lebensentwürfe genommen werden.
Zumindest in Kabul sieht man aber noch viele Frauen auf den Straßen ...
Das stimmt. Es hat mich überrascht, auch Frauen ohne männliche Begleiter zu sehen. Viele von ihnen tragen nicht die Burka, sondern lange schwarze Mäntel und schwarze Kopftücher, einige sogar bunte. Ihr mutiges Auftreten ist ein Zeichen des Protests. Einschränkend muss ich aber auch sagen: Ich war auf meiner letzten Reise nach Afghanistan nur in Kabul. Auf dem Land sieht man wohl weniger Frauen auf der Straße und wenn, dann mit Burka.
Den Frauen ist es verboten zu arbeiten ...
Ja, als Erstes haben die Taliban ihnen verboten, in Ministerien zu arbeiten. Dann wurde Mädchen und Frauen der Besuch weiterführender Schulen und Universitäten untersagt, schließlich durften sie auch nicht mehr für Nichtregierungsorganisationen und die Vereinten Nationen arbeiten.
Mussten Sie deshalb alle Mitarbeiterinnen entlassen?
Nein, wir haben keine einzige Frau entlassen – und das werden wir auch nicht tun. Für diese klare Haltung haben wir auch die Unterstützung unserer Geber.
Bringen Sie die Frauen so nicht in Gefahr?
Das ist tatsächlich ein Dilemma. Viele unserer Mitarbeiterinnen sind alleinige Ernährerinnen ihrer oft großen Familien. Sie sind sich des Risikos bewusst, aber sie wollen und müssen arbeiten. Wir haben sie deshalb mit Solarpanelen und Datenpaketen ausgestattet, sodass sie mit ihren Laptops von zu Hause arbeiten können. Aber viele empfinden die erzwungene Isolierung als dramatisch.
Die Taliban setzten das Arbeitsverbot für Frauen also nicht rigoros durch?
Nein. Sie wissen, dass wir Frauen brauchen, um besonders von Hunger betroffene Familien zu erreichen. Es sind schwierige Aushandlungsprozesse. Wir bekommen nie etwas Schriftliches und Langfristiges, aber durchaus Zusagen, dass unsere Mitarbeiterinnen bestimmte Arbeiten machen dürfen.
Man kann also mit den Taliban verhandeln?
Ja, denn die Taliban gibt es nicht. Dekrete wie jenes, dass Frauen nicht bei NGOs arbeiten dürfen, kommen von der politisch-religiösen Führung und dem Emir in Kandahar. Die Hauptstadt der Taliban ist 500 Kilometer von Kabul entfernt. Theoretisch sollen die Ministerien in Kabul umsetzen, was die Führung in Kandahar beschließt, aber das tun sie nicht immer.
Außenministerin Annalena Baerbock und Entwicklungsministerin Svenja Schulze wollen eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik betreiben. Profitieren Afghaninnen davon?
Leider nicht. Im Gegenteil! Mit der radikalen Einschränkung der Frauen- und Mädchenrechte geben die Taliban Deutschland und anderen Gebern ein Argument, die begrenzten Mittel eher in Ländern einzusetzen, in denen Frauen mehr Rechte haben. Da Frauen und Mädchen in Afghanistan zu den vulnerabelsten Gruppen gehören, leiden sie am stärksten unter den Kürzungen. So erreicht man also genau das Gegenteil von dem, was man eigentlich möchte. Darum sollte humanitäre Hilfe sich nach der Bedürftigkeit, nicht nach politischen Prinzipien richten.
Was braucht Afghanistan am dringendsten?
Langfristige internationale Unterstützung. Denn perspektivisch müssen wir von der humanitären Hilfe wieder zu langfristigen Entwicklungsprojekten kommen. Verteilungen sind jetzt zwar notwendig, aber nicht nachhaltig. Wir müssen die Menschen in die Lage versetzen, sich selbst helfen zu können. Und wir müssen realistisch sein. Deshalb sollten wir Gesprächskanäle offen halten und Verhandlungen und den Dialog zwischen Zivilgesellschaft, Taliban und der Uno intensivieren. Für die Entwicklung des Landes wäre es auch sehr wichtig, zum Beispiel zu überlegen, wie man 150 000 Kämpfer demobilisieren und in die Gesellschaft integrieren kann.
Sie plädieren für Friedensverhandlungen mit den Taliban?
Mir ist klar, dass das derzeit nicht zur Debatte steht. Aber die Taliban immer weiter zu isolieren, führt auch in eine Sackgasse.
Wollen die Taliban überhaupt eine langfristige Entwicklungszusammenarbeit?
Das ist schwer zu beurteilen. Sie übernehmen unter anderem die Verantwortung für die Sicherheit und die Erhebung von Steuern. Darin sind sie teilweise besser als die von ihnen gestürzte Regierung. Aber die Grundversorgung überlassen sie wie die Regierungen zuvor weitestgehend internationalen Gebern und Organisationen, was ein Fehler ist. Wir erklären ihnen immer wieder die Prinzipien humanitärer Hilfe und von Entwicklungszusammenarbeit. Ich habe das Gefühl, dass das zumindest zum Teil erfolgreich ist.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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