- Kultur
- Sommerserie »Food for Thought«
Quality Time mit Cakes
Food For Thought (Teil 1): Berlin-Neukölln bietet ein Panorama der unterschiedlichen Spielarten urbaner Nahrungsaufnahme
In den großen Städten essen die Menschen immer mehr und lieber allein daheim auf Bestellung. Von Montag bis Sonntag bringt Ihnen der Lieferservice ihrer Wahl, einer der drei großen Player, in dessen Dienst Heere Prekärer fast rechtlos strampeln, das eine geile Dish, das zu ihnen passt. Wenn der Kater anhält, die Drogen noch im Kopf wehtun oder man sich einfach mal gönnen will, nicht vor die Haustür zu gehen, prüft der moderne Stubenhocker in Windeseile das Angebot in seinem jeweiligen Einzugsgebiet. Fein säuberlich sortiert nach Arabisch, Asiatisch, Slawisch, Deutsch. Pornografisch effizient, weiß man ja, was man will, und kriegt es geschwind. Und wenn es zu lange geht, bewerten wir eben mit weniger Sternen. Virtuell zu überweisendes Trinkgeld wird gerne mal einbehalten. Frustriert und zufrieden liegt dann das städtische Wesen in seinem Bett, versaut die Matratze, nickt neben Chicken-Wing-Gebein auf dem ergonomischen Kissen ein.
Restaurantbesuche können im Angesicht des sozialpsychologischen Angstparadigmas FOMO (Fear Of Missing Out; Verpassangst) allerdings auch der Mental Health unzuträglich sein. Kürzlich begleitete der Bayerische Rundfunk ein oberpfälzisches Paar, das nach einigen Jahren Berlingentrifizieren zur Entspannung in die Heimat – wie alle Zugezogenen bis ins hohe Alter den Wohnort ihrer Eltern nennen – zurückging. Dort war nämlich Oma dazu bereit, die beiden jungen Wilden den familiären Hof endlich so richtig »bio« machen zu lassen. Die zum Gemüseziehen motivierte Frau Rückkehrerin erklärte sich: Es gibt in Berlin einfach zu viele tolle neue Restaurants, die zu jeder Jahreszeit sprießen. In die muss man, um zu essen, sich dabei zu fotografieren, dabei gewesen zu sein, bevor das neue Experiment urbaner Lebensqualität vielleicht doch wieder dichtmacht. Richtige To-do-Listen legte die Oberpfälzerin an, um ja nix an besonderer Kulinarik in besonderem Ambiente zu verpassen.
Runtergekocht auf den faden Streetfood-Geschmack konsumieren wir heute alle möglichen Kulturen eifrig und pflichtschuldig durch ihre Cuisines. Foodies nennen sich Singles stolz beim Online-Dating. Extra für Instagram, das besagen zumindest Gerüchte, wurde das beliebte Format Bowl entwickelt: Geschnippelte, zusammengeworfene Zutaten, die ohne eine Minute Küchenausbildung zubereitet werden können, ergeben ein Gericht, das aufgrund seiner Vielfalt an Farben und Formen auch keinerlei fotografisches Können verlangt, um ordentliche Food-Photography zum Zwecke der Bewerbung eines Restaurants und der eigenen Erfahrung vor Ort für das Bilder-Social-Media bereitzustellen.
Ein Panorama der unterschiedlichen gegenwärtigen Spielarten an urbaner Nahrungsaufnahme, ohne selber allzu viele Finger allzu lange zu rühren, bietet der Böhmische Platz in Berlin-Neukölln. Ein Aufbackwaren-Laden verkaufte den fast Mittellosen, die über den Platz streifen, Supermarktcroissants, die sie sich noch leisten konnten. Man wollte, wie es scheint, expandieren, bulgarische Speisen anbieten, hat sich übernommen, ist zu. Nebenan gibt es ein sehr, sehr nettes Café, in dem größtenteils englischsprachige Menschen horrende Beträge für Sandwiches, Cookies und Cakes ausgeben, um Quality Time abzusitzen oder zu arbeiten. Gesindel hält man sich vom Leib, indem man nur noch mit Karte zahlen lässt. Sorry, heute nicht. Das Personal wird routiniert ausgewechselt, sodass ja niemand im Team eine kollegiale Bindung aufbaut. Ein anderes sehr, sehr nettes Café in der Nähe hat zugemacht und Leerstand hinterlassen, den sich wohl gerade niemand leisten will. Pizza-Ecken, belegt mit regionalen Zutaten, ergänzen das Angebot vor Ort: Obligatorisch vegetarisch, nicht gerade billig, in einem sehr sterilen Ambiente, mit ziemlich beschränkten Öffnungszeiten für den Hersteller eines Snacks an einem Platz, wo allerlei Menschen zusammenkommen können ... bis die Polizei aufkreuzt, weil der Anwalt aus dem höchsten Stockwerk hier nicht hergezogen ist, um am Leben anderer Teil zu haben.
Die Filiale einer kleinen Kette mit vietnamesischen Speisen bietet Gerichte zu halbwegs erschwinglichen Preisen. In kleineren Städten täte man sich darüber freuen. Neben diesem Geschäft aber befindet sich, seitdem die Gegend mehr oder weniger befriedet ist, ein Sternerestaurant, wo man pro Person schon mehr als zweihundert Euro ausgeben können sollte, um eine vollständige kulinarische High-End-Experience zu erhalten. Was die bodentiefen Fenster mit der Kundenseele tun, dass die Verzehrer edler Portiönchen sogar die um den Platz zirkulierenden Junkies ignorieren können, bleibt ein Geheimnis. Den meisten, die hier schon vor dem großen Aufmöbeln lebten, wissen vom Verkauf der frischen Eier vom Lande durch das Puppentheater, wo auch gerne mal in großen Töpfen gekocht wird, und Leute zu Essen kriegen, in deren Alltag es keinen Business-Lunch gibt und die keinen Stundenlohn für eine Pizza ausgeben wollen. Am längsten bewährt hat sich ein polnischer Imbiss, wo Veganer Pommes kaufen können, auf Schwein Verzichtende halbe Hähnchen, Amerika-Fans Burger kriegen und Tagesgerichte unaufgeregt für Abwechslung sorgen. Dazu kann man Cola trinken oder Bier. Wer ein paar Münzen dabei hat oder einen kleinen Schein zücken kann, wird satt.
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