• Berlin
  • Christopher Street Day

Internationalistische Pride in Berlin: Proletarier aller Gender!

Die alternative Pride bringt die Kämpfe für queere und globale Freiheit zusammen und mehrere Tausend auf die Straße

  • Nora Noll
  • Lesedauer: 4 Min.
Nicht nur die Internationalistische Pride, auch der Dyke* March am Vorabend präsentierte sich politischer als der CSD.
Nicht nur die Internationalistische Pride, auch der Dyke* March am Vorabend präsentierte sich politischer als der CSD.

Der U-Bahnhof Kottbusser Tor vibriert. Am Bahnsteig der U8 spielt eine Gruppe junger People of Color am Samstagnachmittag Musik aus der Bluetooth-Box, man tanzt sich warm für die Internationalistische Queer Pride am Hermannplatz. Plötzlich kippt die Stimmung, Pfiffe und Buhrufe erfüllen das Gleis. Ein Mann steht der tanzenden Gruppe gegenüber, in konfrontativer Haltung schreit er: »Ihr seid ekelhaft!« Die kollektiven Gegenrufe übertönen seinen Hass, dennoch zeigen sich die Wartenden erleichtert, als die U-Bahn einfährt und sie den Angreifer zurücklassen können.

Die Szene ruft drastisch in Erinnerung: Queeres Leben muss sich nach wie vor verteidigen. Die freudvolle Selbstverständlichkeit, mit der schwule, lesbische, bisexuelle, trans, inter und nichtbinäre Menschen am Pride-Wochenende die Straßen füllen, lässt sich deshalb als widerständiger Akt verstehen. Am Christopher-Street-Day (CSD) nehmen laut Polizei mehrere Hunderttausend teil, die Alternativveranstaltung mobilisiert nach Angaben der Polizei 8500 Menschen – die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen.

Zum dritten Mal läuft die alternative Pride-Veranstaltung durch Neukölln und Kreuzberg, vom Hermannplatz bis zum Oranienplatz. Organisiert wird sie von linken Gruppen, die sich als queerfeministisch, antirassistisch und antikolonial verstehen, darunter die Gruppe »Queeraspora« von queeren Migrant*innen of Color, der antifaschistische jüdische Bund, die Berliner Queers gegen Rassismus und Kolonialismus, kurz »Quarc« und Migrantifa. Die internationale Zusammensetzung der Organisator*innen spiegelt sich in den unterschiedlichen Blöcken wieder: Ein lateinamerikanischer, ein sudanesischer oder auch zentralasiatischer Block verbinden die Forderung nach queerer Befreiung mit einer internationalistischen Perspektive, nach der intersektionalen Devise: Wo Krieg herrscht oder imperiale Mächte die Bevölkerung unterdrücken, können auch queere Menschen nicht frei leben. Dieselbe Botschaft vermittelt das Motto der Demonstration: »None of us are free until all of us are free«, auf deutsch: »Niemand von uns ist frei, bis wir alle frei sind.«

Durch diesen Fokus entstehen spannende thematische Verknüpfungen. Aroh Akunth etwa spricht auf dem Lautsprecherwagen für die Dalit-Community. Die trans Person prangert das indische Kastensystem an, das die indigene Gemeinschaft der Dalit ausschließt und dadurch entrechtet. Das System funktioniere »endogam«, erklärt Akunth dem »nd«: Menschen dürften nur innerhalb ihrer Kaste heiraten. »Es können also nicht einmal Heterosexuelle frei entscheiden, wen sie heiraten wollen.« Liebe und Sexualität von Dalit würden dadurch unterdrückt. »Da gibt es eine inhärente Verbindung zum Kampf queerer Menschen«, so Akunth. Sie sei froh darüber, auf der internationalistischen Pride Gehör für die Situation der zahlenmäßig sehr großen, doch kaum wahrgenommenen Minderheit zu finden.

Der Hermannplatz platzt aus allen Nähten, das Publikum ist auffällig vielsprachig und divers. Auf die Frage, ob und weshalb sie diese Pride dem großen CSD vorziehen, kommt von Besucher*innen immer wieder der Hinweis auf die Kommerzialisierung. »Ich habe mir die Wagenreihung angeschaut, Jobcenter und Boston Consulting Group, und dachte mir: Maybe not«, sagt etwa eine Teilnehmerin mit Blick auf die gesponserten Wägen beim CSD. »Der CSD ist voll von Pink-Washing«, kritisiert ein anderer Besucher den Trend von Unternehmen, sich mit Regenbogenfarben und liberalen Slogans als progressiv darzustellen. »In meinem ersten Jahr in Berlin war ich dort und war geschockt. Ich bin kurdisch und komme aus der Türkei, für mich bedeutete Pride immer Widerstand«, so der Besucher. Auch sei ihm die palästinensische Bewegung wichtig.

Tatsächlich überwiegen die palästinensischen Flaggen, Schilder und Parolen die übrigen internationalistischen Solidaritätsbekundgungen – dennoch dominieren sie nicht die Veranstaltung. Dieser Vorwurf war im Nachklang der vergangenen beiden internationalistischen Pride-Märsche laut geworden. Zudem hatte das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus auf israelbezogenen Antisemitismus hingewiesen. Den Demo-Slogan »From the River to Sea, Palestine will be free« (Vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein), den das Forum als Auslöschungsfantasie Israels versteht, hört man auch in diesem Jahr.

Nach zwei Stunden Auftaktkundgebung zieht die Demonstration los. »Wir sind kein Rave«, betont die Moderation und bittet die Teilnehmer*innen, die Pride als politische Veranstaltung zu verstehen. Ganz in diesem Sinne werden am Kottbusser Tor unterhalb der Kotti-Wache »Ganz Berlin hasst die Polizei«-Rufe laut. Mindestens zwei Teilnehmende nehmen die polizeikritische Haltung besonders ernst. Die Polizei stellte laut eigenen Angaben zwei Anzeigen wegen Beleidigung von Dienstkräften.

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