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- Wärmewende in Berlin
Lasst Hunderte Wärmenetze blühen
Nahwärme kann Berlin schnell und preiswert auf den Klimapfad bringen
»Warum warten alle Leute, bis Herr Habeck oder sonst wer eine Ansage macht? Man kann viel jetzt schon anstoßen, zumal es sowieso Jahre bis zur Realisierung dauert«, sagt Michael Viernickel. Der Umweltenergie-Experte aus Berlin hat an konkreten Beispielen durchgerechnet, wie ohne Mehrkosten gegenüber der klassischen Fernwärme die Dekarbonisierung ganzer Quartiere möglich wäre. Nicht mal Zuschüsse aus dem Haus von Bundesklimaschutzminister Robert Habeck (Grüne) wären dafür nötig. Dafür müssten das Land Berlin und die Bezirke allerdings Initiative zeigen.
Denn in den dicht bebauten innerstädtischen Altbauquartieren fehlen die Voraussetzungen, um mit den bereits bei Eigenheimen oder im Neubau breit angewendeten Lösungen wie Luft-Wärmepumpen und Erdwärmesonden den kompletten Wärmebedarf decken zu können. Das Betriebsgeräusch der wie Klimaanlagen funktionierenden Wärmepumpen ist zu laut, um sie in engen Hinterhöfen aufstellen zu können. Um der Erde Wärme entziehen zu können, braucht es einen gewissen Platz, um die Bohrungen zu platzieren. Und dann ist da noch die Sache mit der seit Jahren viel zu niedrigen Rate energetischer Sanierungen von Altbauten. Ein Punkt, der bereits lange diskutiert, aber politisch nach wie vor nicht ernsthaft angegangen wird. Genauso wie die Frage, wie Mieterinnen und Mieter vor Verdrängung durch exorbitant steigende Wohnkosten geschützt werden können.
Fernwärme hat ein Klimaproblem
Der schwedische Staatskonzern Vattenfall und zumindest weite Teile der schwarz-roten Regierungskoalition in Berlin sehen die Lösung im Ausbau und der Dekarbonisierung des Fernwärmenetzes. Kürzlich hat der Konzern, der sich von seinem Berliner Wärmenetz trennen möchte, einen Fahrplan für den klimaneutralen Betrieb vorgelegt, der Expertinnen und Experten die Augen aufgehen lässt. Ersatz der Steinkohle durch Biomasse, eine Verdreifachung der Müllverbrennung und schließlich soll ein Fünftel der nötigen Energie aus der Nutzung von grünem Wasserstoff kommen. Letzterer wird aufgrund der hohen Produktionskosten auch als »Champagner der Energiewende« bezeichnet. Das würde sich auch im Wärmepreis niederschlagen. Und dann sei da noch das Problem des großen Energieverlusts des Fernwärmenetzes an sich.
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»Wie soll die Fernwärme grün werden?«, fragt Michael Viernickel rhetorisch. Würde die Müllverbrennung ausgeweitet, würde man letztlich vor allem Plastik verbrennen und CO2 in die Atmosphäre jagen. »Da ist es ökonomischer und ökologischer, den Kunststoff unter Tage einzulagern, wenn er nicht recycelt werden kann.« Genauso unrealistisch sei es, erhebliche Mengen Biomasse zusätzlich zu verbrennen. Ein weiterer Pferdefuß der klassischen Fernwärme mit 110 Grad Zulauftemperatur ist auch der hohe Energieverbrauch allein für den Betrieb.
Dezentral zur Dekarbonisierung
»Wir müssen dezentrale Techniken fördern«, zu diesem Schluss kommt Viernickel. Und berichtet bei seinem kürzlich auf dem Dragoner-Areal in Kreuzberg gehaltenen Vortrag über seinen konkreten Lösungsvorschlag, wie die Dekarbonisierung der Wärmeversorgung gelingen kann. Das ist dringend nötig, denn Heizung und Warmwasserbereitung sind in Berlin für die Hälfte des Endenergiebedarfs und 43 Prozent der Klimagas-Emissionen verantwortlich, wie das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) schreibt.
Zentral für Viernickels Ansatz ist, die Wärme vor allem dann zu ernten, wenn sie in der Natur anfällt: nämlich im Sommer. Zum Beispiel über Luft-Wärmepumpen und Sonnenkollektoren. Die Wärme wird anschließend im Untergrund gespeichert und in der kalten Jahreszeit wieder entnommen. Aquiferspeicher nennt sich die Technologie. Im Auftrag des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg hat Viernickel untersucht, wo das grundsätzlich möglich wäre, zumindest in Tiefen bis 50 Meter. Ausgeschlossen ist das nur in einem Streifen, der ungefähr vom Görlitzer Park bis zum Ostbahnhof reicht. Grund ist die dort sehr labile Trennschicht zum tiefer liegenden Salzwasser – ein letzter Gruß einstiger Meere.
Sommerwärme speichern
Dieser Wärmespeicher wäre zentraler Bestandteil eines sogenannten kalten Nahwärmenetzes, das nur mit Temperaturen um 15 Grad betrieben wird. Erst in den Gebäuden wird mit Wärmepumpen die Temperatur weiter angehoben. »Dafür können ungedämmte Plastikrohre verwendet werden – ohne Wärmeverlust«, sagt Viernickel. Das ist günstig und simpel, wie die Bohrungen in ein paar Dutzend Meter Tiefe.
»Pro Quadratmeter Wohnfläche würde das etwa 145 Euro an Investitionen erfordern, dafür, dass man den gesamten Energiebezug bis auf den Strom für lau bekommt«, sagt Viernickel. Inklusive Kreditzinsen für die Investition und Wartung würde die Kilowattstunde Wärme 18,4 Cent kosten, rechnet er vor.
»Damit sind wir auf dem aktuellen Niveau des Fernwärmepreises. Und das ist ohne eine mögliche Förderung gerechnet, mit der der Preis noch weiter gedrückt werden könnte«, so der Experte. Er rechnet so, dass die Anlage in 20 Jahren abgeschrieben ist, wobei er davon ausgeht, dass der Brunnen für den Wärmespeicher »sicher länger als 50 Jahre« hält. Dementsprechend halbierten sich nach 20 Jahren die Kosten oder man finanziere über einen längeren Zeitraum mit entsprechend geringerem Wärmepreis.
Viernickel hat das beispielhaft am Areal der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule in Kreuzberg nahe dem Südstern durchgespielt. Auf dem Schulhof wäre Platz für die zwei Bohrungen, von denen später an der Oberfläche nichts mehr zu sehen sein würde. Auf den Dächern der Schulbauten wäre mehr als genug Platz für Luft-Wärmetauscher und kombinierte Solarzellen für den Strom und Sonnenkollektoren für die Wärme. Viernickel geht durch die Montage auf dem Dach auch nicht von Lärmproblemen aus. »Dabei könnten zehn Mehrfamilienhäuser im angrenzenden Quartier mitversorgt werden«, erläutert er. Dafür wäre nicht einmal eine energetische Sanierung der Gebäude nötig.
»Öffentliche Gebäude als Keimzellen für klimaneutrale Quartierswärme« – diesen Ansatz halten auch die Expertinnen und Experten vom IÖW für zielführend, wie sie in einer gleichnamigen, 2022 veröffentlichten Studie darlegen.
Überschaubare Investitionen
Der große Vorteil dieses Ansatzes ist laut Viernickel, dass eine vergleichsweise geringe Anfangsinvestition nötig und die Versorgung weiterer Gebäude schrittweise möglich ist. Mit maßvoller energetischer Sanierung und dadurch sinkendem Heizenergieverbrauch ließe sich die Versorgung nach und nach auf alle drei an die Schule angrenzenden Häuserblöcke ausweiten. Als zusätzliche Wärmequelle ließe sich unter dem Sportplatz eine Art Rasenheizung installieren. »Nur, dass sie eben im Sommer Wärme entzieht und nicht im Winter zuführt«, sagt der Experte.
Viernickel hat noch viele weitere Wärmequellen im Auge. Rechenzentren oder auch den Straßenbelag. »Asphalt heizt sich im Sommer auf bis zu 60 Grad auf, die Wärme könnte man mit einfachen Plastikrohren entziehen. Das System ist so günstig, dass man es auch einfach aufschreddern kann, wenn an der Straße etwas gemacht werden muss«, erläutert er. Und dann seien da noch die vielen verglasten Bürogebäude. »Das sind riesige Sonnenkollektoren. Was irgendwie fehlt, ist der Speicher – was wollen wir mit zwei Megawatt im August? Wenn wir da unseren Untergrund nutzen, ist das gelöst.«
Die Projektionen von Michael Viernickel sind alles andere als Traumtänzereien. Seit Jahrzehnten realisiert er solche Projekte nicht nur in Berlin, unter anderem für die Wohnungsbaugenossenschaft Märkische Scholle, die bereits viele Preise für ein erfolgreich dekarbonisiertes Quartier bekommen hat. Auf der Webseite seines Arbeitgebers eZeit Ingenieure findet sich eine ganze Latte an Vorhaben dieser Art.
Ein großes Netz aus kleinen
Nach und nach könnten diese ringförmigen kalten Nahwärmenetze miteinander verbunden werden. Klar sei: »Wir werden das grundstücksübergreifend machen müssen.« Nukleus dieser Netze könnte jeweils eine öffentliche Liegenschaft sein, wo mehr Wärme gesammelt und gespeichert werden kann als für deren Beheizung benötigt werden. Sogar eine Kopplung mit dem klassischen Fernwärmenetz ist machbar.
Die landeseigenen Stadtwerke wären in Viernickels Augen der ideale Partner, um so etwas umzusetzen. »Doch die warten, bis die Senatsumweltverwaltung sagt, dass sie so ein Konzept umgesetzt sehen will«, sagt der Experte. Letztlich warte man bereits seit Jahren auf dieses Signal. In zwei Punkten sei das Konzept abhängig vom Willen der Hauptverwaltung. Zum einen müsse die Vernetzung durch das öffentliche Straßenland erfolgen, zum zweiten sei die Verwaltung gefragt mit Blick auf den Umgang mit möglichen Altlasten im Grundwasser.
Fragen zum Leben im Untergrund
Bedenken gibt es auch in der Frage, wie sich die wechselnden Temperaturen auf das bisher wenig systematisch erforschte Leben im Grundwasser und damit letztendlich auch auf die Wasserqualität auswirkt. Diese Bedenken kennt Michael Viernickel, teilt sie aber nicht: »Im Bereich zwischen fünf und 20 Grad ist das völlig harmlos für die Biozönose. Ich kann mir keinen Vorgang vorstellen, wo das schädlich sein sollte.«
2015 wurden in einem Gutachten des Umweltbundesamtes Temperaturen ab 16 Grad aufwärts für »mittel- bis langfristig kritisch« gehalten. Zusammen mit zwei dafür spezialisierten Forschungseinrichtungen untersucht Viernickels Büro in dem Forschungsvorhaben Demospeicher jedoch genau das unterirdische Tierleben im Betrieb, um die Bedenken ausräumen zu können.
Michael Viernickel ist skeptisch, dass eine mögliche Rekommunalisierung von Fernwärme und Gasnetz den nötigen massiven Schub für die intelligente Dekarbonisierung der Wärmeversorgung in der Hauptstadt gibt. »Die Menschen, die da arbeiten, werden das weitermachen, was sie bisher gemacht haben.« Beide Netze hätten bei Weitem nicht mehr den Wert, der ihnen teilweise zugeschrieben werde.
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