Russland: Die Kampfzone wird erweitert

In Russland geraten BDSM-Anhänger ins Visier von Staat und »besorgten Bürgern«

  • Ewgeniy Kasakow
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Wald bei Moskau wollte die lokale BDSM-Szene sich selbst feiern. Nachdem die Polizei das Festival auflöste, tummeln sich an der Stelle jetzt Rentner.
Im Wald bei Moskau wollte die lokale BDSM-Szene sich selbst feiern. Nachdem die Polizei das Festival auflöste, tummeln sich an der Stelle jetzt Rentner.

Für Moskaus Sado-Maso-Szene ist es einer der Höhepunkte: Seit 13 Jahren kommt sie zum BDSM-Fishing-Festival in einem Wald bei Orechowo-Sujewo in der Nähe der russischen Hauptstadt zusammen, dem nach eigenen Angaben größten seiner Art. In diesem Jahr endete das Festival jedoch bereits vor der Eröffnung. In der Nacht zum 27. Juli stürmten Polizisten das Gelände und befahlen »die Propaganda nichttraditioneller Werte« zu unterlassen. Von allen Anwesenden wurden Personalien aufgenommen, drei Personen, die sich weigerten, wurden festgenommen.

Initiator des Einsatzes der Ordnungshüter war der Duma-Abgeordnete der Fraktion Einiges Russland, Gennadij Panin. Ein Politiker, der stolz erklärt, dass Russland »für den Schutz der Sittlichkeit und der Institution der Familie in ihrem besonderen Verständnis steht«. Kurz nach der Auflösung des Festivals zeigte das Staatsfernsehen die Früchte von Panins Engagement: Auf dem von »Perversen« befreiten Gelände entsteht ein Erholungsgebiet für Rentner. Schon am Tag nach der Räumung tummelten sich statt Menschen in Lack und Leder Rentner mit Jungpioniermützen in dem Wald.

Sex-Szene gerät in Fokus von Aktivisten

Panins Aktion ist kein Einzelfall. In Russland häufen sich Attacken von Behörden und »alarmierten Bürgern« auf die BDSM-Szene. Nur einen Tag nach der Auflösung des Fishing-Festivals wurde in St. Petersburg ein weiteres Festival »aus technischen Gründen« abgesagt. Zuvor war die Polizeispezialeinheit Omon bei den Veranstaltern aufgetaucht.

Ins Visier der Sittenwächter geraten nicht nur Fetisch-Freunde. Im Juni stürmte in Moskau ein Trupp der orthodoxen Bewegung »Sorok sorokow« ein Treffen sexpositiver Blogger. Seit zehn Jahren gehen die religiösen Hardliner bereits gegen Ausstellungen und Filmvorführungen vor, bewachen Baustellen von Kirchen gegen die sich häufenden Stadtteilproteste oder hetzen gegen LGBT-Organisationen, sexuelle Aufklärung, Feminismus, die »Childfree-Bewegung« (freiwillig Kinderlose) und den Atheismus. Das alles im Namen der »Rechte der Gläubigen«. Mal greifen die kampfsporterfahrenen Aktivisten selbst tätlich an, mal stellen sie Anzeige wegen der »Verletzung der Gefühle der Gläubigen«.

Neben religiösen Gruppen mischen auch Rechte mit

Auch rechte Gruppierungen haben es zunehmend auf alles abgesehen, was nicht ihrem Sexualbild entspricht. Das mussten zuletzt die Organisatoren eines Sex-Festivals in Perm erfahren. Zehn Tage vor Beginn des Festivals erfuhren sie vom Verbot, das die Bewegung »Ruf des Volkes« forderte. Dafür hatte sich die Bewegung mit einem Brief an den Vorsitzenden des russischen Ermittlungskomitees, Alexander Bastrykin, gewandt. Das Festival gefährde die »sittlichen Grundlagen Russlands«, schreiben die Verfasser, die sich als Stimme »besorgter Eltern« sehen. »Die Perversen« würden »Prostitution und amoralischen Lebenswandel propagieren«.

Aktionen wie diese sind typisch für »Ruf des Volkes«. Seit die Bewegung 2017 von Sergej Sajzew, einem ehemaligen Mitglied der rechtspopulistischen Liberaldemokratischen Partei Russlands, gegründet wurde, denunziert sie Künstler, Wissenschaftler, LGBT- und Oppositionsaktivisten bei den Behörden. Vor Sajzews Mitstreitern sind weder Hip-Hop-Konzerte noch Theateraufführungen sicher. Das Vorgehen gleicht immer einem Muster: Behörden erhalten Briefe von Eltern, die ihre Kinder durch die »Propagierung« von Drogen, LGBT, Suizid oder Satanismus gefährdet sehen. Daraufhin fordern die Aktivisten, den »Stimmen der einfachen Menschen Gehör zu schenken«.

Staat macht seine Orientierung klar

Die neue Kampagne von Staat und konservativen Gruppen ähnelt den groß angelegten Kampagnen im Namen der »gesunden Volksmeinung« gegen LGBT, Hip-Hop oder Anime (japanische Zeichentrickfilme) in den vergangen Jahren. In Kriegszeiten kommt die Kehrseite der staatlich geforderten Sittlichkeit besonders eindrücklich zum Vorschein. »Gerade in Zeiten der militärischen Spezialoperation« seien Sex-Festivals gefährlich, beschwert sich »Ruf des Volkes«. Schließlich könne die junge Generation ihre »ethische Orientierung verlieren«.

Der russische Staat unterstreicht mit den neuen Repressionen gegen Sex-Festivals seine Orientierung. Während er Hunderttausende Menschen für den eigenen Gewaltapparat mobilisiert und anschließend zum Töten und Sterben schickt, müssen sich Liebhaber von Fetischuniformen und einvernehmlicher Sexualität für ihre Amoralität schämen. Während Kinder vor Erwachsenenfestivals auf geschlossenem Gelände im Wald geschützt werden, bekommen sie in Form von »Patriotismus-Stunden« in der Schule Kriegspropaganda zu hören.

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