»Er wollte uns töten«

Zeuge im Fall Melvin S. ist sicher, dass er den Anschlag mit Kalkül verübte

  • Joachim F. Tornau, Kiel
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Mann spricht sehr leise, immer wieder kommen ihm die Tränen. Doch seinen Worten mangelt es nicht an Deutlichkeit. »Er hätte einfach wegfahren können«, sagt der 29-Jährige. »Aber er hat in keiner Sekunde gestoppt oder gezögert. Wie in einem Computerspiel. Sie hatte keine Chance.«

Sie, das ist seine frühere Lebensgefährtin. Im Oktober 2020 wurde die Frau am Rande einer antifaschistischen Kundgebung gegen die Alt im schleswig-holsteinischen Henstedt-Ulzburg von einem damaligen Mitglied der Rechtsaußenpartei angefahren und schwer verletzt – absichtlich, das glaubt nicht nur ihr Ex-Freund, sondern auch die Staatsanwaltschaft. Und er, das ist Melvin S., der sich deshalb seit Anfang Juli wegen des Vorwurfs des versuchten Totschlags vor dem Landgericht in Kiel verantworten muss.

Statt einfach wegzufahren, soll der heute 22-Jährige, nachdem er und seine drei Begleiter von der antifaschistischen Kundgebung ausgeschlossen worden waren, den tonnenschweren Pick-up seiner Mutter gezielt auf den Bürgersteig gelenkt und auf vier Demonstrant*innen zugehalten haben. Drei von ihnen traf er. Nur der Mann, der am Mittwoch als erster Nebenkläger in den Zeugenstand tritt, konnte sich mit einem Sprung zwischen parkende Autos gerade noch retten.

Fast atemlos erzählt der Student, wie Melvin S. das Auto »superkontrolliert und galant« auf den Gehsteig gesteuert habe. Wie das erste Opfer zur Seite geschleudert worden sei. Wie der Angeklagte danach »einfach durchbeschleunigt« habe und mit aufheulendem Motor auf die Frau, eine Person of Color, zugefahren sei. »Es wurde extra nach rechts auf den Grünstreifen gezogen, um sie zu treffen«, sagt er. »Er wollte uns töten.« Noch immer kämpfe er mit Schuldgefühlen, weil er seine damalige Lebensgefährtin nicht habe schützen können.

»Ich sehe sie daliegen«, erinnert er sich, »und ich denke sofort, dass sie tot ist.« Er sei dem Wagen, den Melvin S. danach – auch das ganz kontrolliert – an einer Bushaltestelle zum Stehen gebracht habe, hinterhergerannt, habe ans Beifahrerfenster getrommelt, habe gebrüllt: »Du hast sie umgebracht!« Die Reaktion: keine. »Er wirkte kühl, unaufgeregt.«

Lebensgefährlich, wie er es im ersten Schreck befürchtet hatte, waren die Verletzungen der Freundin dann zwar nicht. Aber, so berichtet er, sie habe zunächst weder stehen noch gehen können, monatelang »extreme Schmerzen« gehabt und sich nicht einmal die Socken selber anziehen können. Und er selbst? Sei seither psychisch schwer angeschlagen und versuche, das Erlebte in einer Therapie zu verarbeiten.

Melvin S. hört sich all das ohne erkennbare Regung an, nur gelegentlich knetet er seine Finger. Beim Prozessauftakt hatte er jegliche Verletzungs- oder gar Tötungsabsicht bestritten und von einer »Panikreaktion« gesprochen: Eine Gruppe von »acht bis zwölf Vermummten« habe einen seiner Kumpel angegriffen, da habe er Gas gegeben. Zur Abschreckung. Aber was dann genau geschehen sei, wisse er leider nicht mehr – Erinnerungslücke.

Mit der Aussage des Zeugen an diesem dritten Verhandlungstag lässt sich das kaum in Einklang bringen. Er habe weder Schläge gesehen noch Vermummte, sagt der Mann. Und außer ihm, seiner Freundin und den anderen beiden Nebenklägern seien keine Demonstrant*innen in der Nähe gewesen. »Das war keine bedrohliche Situation.« Bis Melvin S. seinen Pick-up gestartet habe.

An der Darstellung des Angeklagten scheint das Gericht allerdings ohnehin zu zweifeln. »Man könnte die Auffassung vertreten, dass die Erinnerungslücke etwas ausgestanzt wirkt und schwer nachzuvollziehen ist«, sagt Strafkammervorsitzende Maja Brommann, noch bevor sie mit der Vernehmung des Zeugen beginnt. Dem Angeklagten legt sie deshalb sehr nahe, doch noch einmal nachzudenken. Auch über seine Haltung zur Alternative für Deutschland, zu rechtem und rassistischem Gedankengut.

Denn auch die hatte Melvin S. nach Kräften herunterzuspielen versucht – obwohl er einen Newsletter der rechtsextremen Identitären Bewegung abonniert hatte, per Whatsapp rassistische Bilder verschickte und Nachrichten mit dem bekannten Thüringer Neonazi und Bewegungsunternehmer Tommy Frenck ausgetauscht hatte.

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