Polizei in Brasilien: Erschießungen und Folter

In Brasilien verübt die Polizei bei Einsätzen gegen Dealer Massaker in Favelas

  • Niklas Franzen
  • Lesedauer: 4 Min.

Es ist eine der blutigsten Wochen des Jahres: In den letzten Tagen starben in ganz Brasilien etliche Menschen bei Polizeieinsätzen. Am Mittwoch lieferten sich Polizisten und Drogendealer stundenlange Schusswechsel im Favelakomplex Penha in Rio de Janeiro. Mindestens zehn Bewohner starben, vier Menschen wurden verletzt, darunter ein Militärpolizist. Wegen der Polizeiaktion mussten mehrere Schulen geschlossen bleiben. Unter den Toten sollen nach Aussage der Polizei gesuchte Drogenhändler gewesen sein, wie das brasilianische Nachrichtenportal »G1« berichtete.

Besonders über einen Einsatz wird heftig diskutiert. Am Donnerstag vor einer Woche war in der Küstenstadt Guarujá im Bundesstaat São Paulo ein Polizist der Spezialeinheit Rota von Drogendealern erschossen worden. Daraufhin führten Polizisten ab Freitag eine groß angelegte Operation in Favelas der Region durch – »Operation Schild« getauft. Sie verhafteten den mutmaßlichen Schützen, hinterließen aber auch ein Blutbad. 16 Tote sind bereits bestätigt, laut dem Ombudsmann der Polizei von São Paulo könnte die Zahl auf 19 Opfer steigen.

São Paulos rechter Gouverneur Tarcísio de Freitas sagte, er sei »extrem zufrieden« mit dem Polizeieinsatz. Die ihm unterstellten Beamten hätten alles richtig gemacht. Der Sekretär für öffentliche Sicherheit São Paulos erklärte, die Polizisten seien zuvor beschossen worden, sie hätten »in gleichem Maße« reagiert.

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Bewohner*innen berichten hingegen von schweren Menschenrechtsverletzungen und sprechen von einem »Massaker«. Vermummte Polizisten sollen Häuser gestürmt und einige der Opfer regelrecht hingerichtet haben. In den sozialen Medien zirkuliert das Bild eines 22-jährigen Strandverkäufers, der vor seinem Haus erschossen wurde. Verwandte des Mannes erklärten, dieser habe schon vor langer Zeit das organisierte Verbrechen verlassen.

Mindestens ein Mann soll zudem gefoltert worden sein. »Ich hörte seine Schreie und seine verzweifelten Bitten um Hilfe. Er war Arbeiter und hatte keine Waffe«, sagte eine Zeugin dem Nachrichtenportal »UOL«. Die Polizisten sollen angedroht haben, mindestens 60 Menschen zu ermorden und alle männlichen Bewohner mit Vorstrafen und Tattoos zu töten. In den sozialen Medien bejubelten Polizisten die Einsätze.

Die Episoden in Guarujá erinnern an den »blutigen Mai« im Jahr 2006. Nach Angriffen von Gangmitgliedern führten Polizisten im Bundesstaat São Paulo Vergeltungsaktionen durch und töteten mehr als 500 Menschen, viele davon ohne jegliche Verbindung zum organisierten Verbrechen.

Racheakte durch Polizisten waren aber auch in jüngerer Vergangenheit keine Seltenheit. Im Mai 2021 töteten Polizisten 28 Menschen in der Favela Jacarezinho in Rio de Janeiro nach dem Tod eines Kollegen. Mehrere der Opfer sollen hingerichtet worden sein, Bewohner*innen berichteten von schweren Menschenrechtsverletzungen. Wegen des Korpsgeistes in der Truppe, gefälschter Tatorte und Beweise sowie des rassistischen Justizsystems werden Polizisten nur selten juristisch zur Rechenschaft gezogen.

São Paulos Gouverneur Freitas, ein Gefolgsmann des rechtsextremen Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro, kündigte weitere Einsätze in den Favelas der Region an. Freitas will auch einen Vorschlag von Hardlinern der Waffenindustrie prüfen, laut dem Kameras an Polizeiuniformen wieder abgeschafft werden sollen. Diese waren 2020 unter dem bürgerlichen Gouverneur João Doria im Bundesstaat São Paulo eingeführt worden, um Verstöße zu dokumentieren. Danach war tatsächlich ein deutlicher Rückgang der Polizeigewalt zu beobachten gewesen.

Doch dieser Trend hält nicht länger an. In den ersten sieben Monaten dieses Jahres stieg die Zahl der Menschen, die in São Paulo von Polizisten in Ausübung ihres Dienstes getötet wurden, nach Angaben der Behörden im Vergleich zum Vorjahreszeitraum von 149 auf 185 Fälle wieder deutlich an.

Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva hat sich noch nicht zu der Gewalt in Guarujá geäußert. In seiner Regierungserklärung hatte Lula zwar versprochen, Polizeigewalt zu bekämpfen, aber es gibt wenige konkrete Ansätze. Das liegt zum einen daran, dass die Linke den Sicherheitsdiskurs rechten Kräften überlassen hat. Außerdem hat Lula keine Mehrheit im Parlament, seine Koalition ist fragil.

Der politische Spielraum für grundlegendere Reformen wie eine Abschaffung der Militärpolizei, eine Entkriminalisierung von Drogen oder einen Stopp der Masseneinkerkerung ist daher klein. Die Regierung hat aber auch wenig Handhabe, weil Sicherheitspolitik in Brasilien Landessache ist – und in vielen Bundesstaaten regieren rechte Law-and-Order-Politiker.

Doch auch dort, wo Lulas Partei im Chefsessel sitzt, sieht es nicht unbedingt besser aus. Insbesondere der nordöstliche Bundesstaat Bahia, eine Hochburg der Arbeiterpartei PT, hat sich zu einem Hotspot der Gewalt entwickelt. Allein am letzten Wochenende starben dort 15 Menschen bei Polizeieinsätzen. Der aktuelle Gouverneur Jerônimo Rodrigues verteidigte mehrfach brutale Polizeioperationen, und der ehemalige Gouverneur Rui Costa, unter dem der Bundesstaat einen Anstieg der tödlichen Polizeigewalt von 313 Prozent erlebte, ist nun Lulas Kabinettschef.

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