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Leipziger Autoritarismus-Studie: Unbehagen am Kapitalismus

Die jüngste Leipziger Autoritarismus-Studie analysiert erstmals die gesellschaftspolitischen Einstellungen der lohnabhängig Beschäftigten. Das Ergebnis: Soziale Konfliktbilder sind den Befragten wichtiger als kulturelle

  • Thomas Gesterkamp
  • Lesedauer: 6 Min.
Die idealtypische Verkörperung des deutschen Arbeiters: Mittagspause im – damals brandneuen – BMW-Werk in Leipzig, Mai 2005
Die idealtypische Verkörperung des deutschen Arbeiters: Mittagspause im – damals brandneuen – BMW-Werk in Leipzig, Mai 2005

Angesichts von Krieg, Inflation und Klimakrise sind fundierte Daten zur Stimmungslage wichtiger denn je. Schon seit zwei Jahrzehnten misst ein wissenschaftliches Team am Else-Frenkel-Brunswik-Institut der Universität Leipzig den Grad der Unterstützung für die Demokratie, aber auch die quantitative Verbreitung von Ressentiments wie Chauvinismus oder Ausländerfeindlichkeit. Bekannt wurde das 2002 gestartete Projekt als »Mitte«-Studien, seit 2018 trägt es den Namen Leipziger Autoritarismus Studien. Im Zweijahresrhythmus erscheinen die Ergebnisse repräsentativer Befragungen in mittlerweile elf Auflagen.

Finanzielle und logistische Hilfe erhielt die Langzeitforschung zunächst von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, später übernahm die grüne Heinrich-Böll-Stiftung in Kooperation mit der nach einem früheren IG-Metall-Chef benannten Otto-Brenner-Stiftung. »Mit der Unterstützung der Studie hoffen wir, zu einer die Demokratie stärkenden gesellschaftspolitischen Debatte beizutragen«, heißt es im gemeinsamen Vorwort. Gerade für die Bildungsinhalte im gewerkschaftlichen Umfeld, wird dort betont, seien die in der aktuellen Untersuchung erhobenen Daten wichtig.

Klasse als zentraler Widerspruch

In einer Teilbefragung der Studie haben Johannes Kiess, Andre Schmidt und Sophie Bose frühere Erkenntnisse zum Bewusstsein von Arbeiterinnen und Arbeitern aktualisiert. Die Auswertungen zeigen nach Ansicht des Forschungsteams, dass abhängig Beschäftigte weiterhin vor allem wirtschaftliche Interessengegensätze als »maßgebliche gesellschaftliche Widersprüche« wahrnehmen. Konflikte, die sich auf Religion, unterschiedliche Herkunft oder Geschlecht zurückführen lassen, werden dagegen »als weitaus weniger prägend für unser Zusammenleben angesehen«. Kategorien wie soziale Schicht oder Klasse, so die Forderung der Autor*innen, müssten daher ein zentraler Ansatzpunkt bleiben. Dieser Aspekt, bedauert Mitverfasser Andre Schmidt, sei in der Autoritarismus-Forschung derzeit leider »unterbelichtet«.

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema hat eine lange Tradition, sie begann in Deutschland schon in der Weimarer Republik. Der Publizist Siegfried Krakauer veröffentlichte 1930 sein berühmtes Buch über »Die Angestellten«, der Sozialpsychologe Erich Fromm beschrieb 1929 »Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches«. Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt fragten in den 1950er Jahren nach dem »Gesellschaftsbild des Arbeiters«, sie interviewten Hüttenarbeiter des (inzwischen längst stillgelegten) Stahlwerks Duisburg-Rheinhausen, die sich »kollektiv unten« in der Gesellschaft verorteten. Die Göttinger Soziologen Horst Kern und Michael Schumann legten 1973 eine weitere wegweisende Studie über »Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein« vor, als Schwerpunkt untersuchten sie den Einfluss des technischen Fortschritts auf die Einstellungen der Beschäftigten.

In den Sozialwissenschaften wird seit einigen Jahren über eine Verschiebung gesellschaftlicher Konfliktlinien diskutiert. Danach haben kulturelle Differenzen an Bedeutung gewonnen und überlagern vor allem in akademischen Kreisen sozioökonomische Unterschiede. Teile der Arbeiterinnen und Arbeiter sowie der unteren Mittelschicht nehmen dieser Lesart zufolge Gegenpositionen zu den Prioritäten (neo)liberaler und weltoffener Eliten ein, vor allem bei strittigen Fragen wie Gender oder Migration. Der lebensweltliche Kontrast zwischen bodenständigen »Somewheres« und kosmopolitisch orientierten »Anywheres«, wie sie der britische Autor David Goodhart treffend charakterisiert hat, führe zu populistischen oder gar rechtsextremen Haltungen in abgehängten proletarischen Milieus. Die jüngsten Umfragewerte und Wahlerfolge der AfD gerade im Osten Deutschlands bestätigen diese Diagnose.

Mitbestimmung und Demokratie

Bereits 1950 entwickelte Thomas H. Marshall sein Konzept von »Industrial Citizenship«. Mit diesem Begriff umschrieb der Londoner Soziologe damals gelungene Formen betrieblicher Beteiligung durch die Garantie von Mitbestimmungsrechten. Echte Partizipation in Arbeitsbeziehungen reduziere rechtsextreme Einstellungen, mindere die Abwertung anderer und stärke die Demokratie. Das deckt sich mit den Ergebnissen der aktuellen Forschung, der zufolge der Verlust von Handlungsfähigkeit die Übernahme rechtsextremer Weltbilder begünstigt. Sophie Bose konstatiert in der Leipziger Untersuchung eine ausgeprägte Konfliktwahrnehmung unter den abhängig Beschäftigten. Die Gesprächspartner*innen beschreiben diese mit keineswegs überholten Gegensatzpaaren wie »oben – unten«, »arm – reich« oder gar »Kapitalist – Arbeiterklasse«. Gleichzeitige Ohmachtserfahrungen, so Bose weiter, führten jedoch zu »starker politischer Deprivation« und erhöhten die Anfälligkeit für autoritäre Deutungsmuster.

Das »Unbehagen am Kapitalismus« sei heimat- und orienterungslos geworden, so formuliert es der Jenaer Soziologe Klaus Dörre. Die Wissenschaft nennt das »demobilisierte Klassengesellschaft«. Kiess, Schmidt und Bose beziehen sich in ihrer Studie vor allem auf betriebliche Beispiele in den neuen Bundesländern, wo die Tarifbindung gering und der gewerkschaftliche Organisationsgrad besonders niedrig ist. Sie verweisen auf eine gespaltene Wahrnehmung der Befragten: So gebe es Beschäftigte, die sich zwar an Streiks beteiligen, »danach aber zur AfD-Demo gehen«. Arbeitsplatz und Gesellschaft würden gedanklich nicht verknüpft, die Sphären blieben in den Köpfen strikt getrennt.

Gewerkschaft als Machtfaktor

Nicht überall, aber zumindest in einigen westdeutschen Großbetrieben ist die Situation ganz anders. Bei Volkswagen im niedersächsischen Salzgitter zum Beispiel, betont Jessica Knierim von der Vertrauenskörperleitung, sei die IG Metall ein echter Machtfaktor. Die Gewerkschaft positioniert sich auch jenseits der Werkstore, sie ist beteiligt an einem breiten kommunalen Bündnis gegen rechts und wird dabei sogar von der Firmenleitung unterstützt. So ist ein starkes politisches Gegengewicht zu den (durchaus vorhandenen) populistischen und antidemokratischen Ansichten in der 7000-köpfigen Belegschaft entstanden.

Bei Daimler-Benz in Stuttgart kämpfen Gewerkschafter*innen gegen das »Zentrum Automobil«, das mit inzwischen sieben Mitgliedern im Betriebsrat sitzt. Die in Opposition zur IG-Metall-Liste angetretene Interessenvertretung wird von AfD-nahen Kräften unterstützt. Das Zentrum prangert die angebliche Verteufelung des Autos an, wendet sich gegen jede ökologisch orientierte Verkehrswende und verteidigt mit nationalistischen Untertönen den eigenen »Standort«. Lukas Hezel vom DGB-Bildungswerk Baden-Württemberg rät zu einer langfristig angelegten Strategie. Aufklärung allein reiche nicht, um für rechte Ideologien anfällige Beschäftigte zur Umkehr zu bewegen. Prägender seien »praktische Erfahrungen von Solidarität«, etwa während eines Arbeitskampfes.

Zu ähnlichen Ergebnissen kommt die Leipziger Autoritarismusforschung. »Beteiligungsprozesse verbunden mit politischem Lernen bieten am ehesten einen Zugang«, berichtet Andre Schmidt von seinen Gesprächen im ostdeutschen Niedriglohnsektor. In vielen Regionen Sachsens zum Beispiel stehen nach seiner Erfahrung »die Gewerkschaften in direkter Konkurrenz zu rechten Bewegungen«. Vor allem im ländlichen Raum fehlen zivilgesellschaftliche Organisationen, auch Parteien mit Ausnahme der AfD seien dort kaum präsent. Die Politik, ergänzt Sozialforscherin Bose, müsse bei betrieblichen Auseinandersetzungen mehr Gesicht zeigen und Unterstützung signalisieren. Denn die Gewerkschaften könnten das Problem rechtsextremer Einstellungen hinter den Werkstoren nicht alle alleine lösen. Nur gemeinsame Aktionen der demokratischen Kräfte hätten die Chance, autoritäre und fremdenfeindliche Einstellungen zurückzudrängen.

Johannes Kiess, Andre Schmidt, Sophie Bose: Konfliktwahrnehmungsmuster der abhängig Beschäftigten in Deutschland. In: Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen, S. 271–305. Psychosozial-Verlag, br., 29,90 €.

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