Die Wahrheit erschnüffeln

Food for Thought (Teil 6): Georges Simenons »Kommissar Maigret« und seine kulinarischen Vorlieben

  • Gunnar Decker
  • Lesedauer: 6 Min.
»Blutwurst mit Äpfeln«: Eine Delikatesse wohl nur für jene, die damit eine positive Erinnerung, ein erhebendes Gefühl verbinden
»Blutwurst mit Äpfeln«: Eine Delikatesse wohl nur für jene, die damit eine positive Erinnerung, ein erhebendes Gefühl verbinden

Ein Bekenntnis von George Simenon, Autor von immerhin 75 Maigret-Romanen (und nicht nur dieser, sein Werk umfasst noch einmal so viele Bücher mit anderem Sujet), zum Thema Essen lautet: »Auch wenn ich noch kein Kenner war, als Schlemmer war ich qualifiziert.« Ein bemerkenswerter Satz über die eigene Kindheit: Wenn wir unserer Nase folgen, dann folgen wir der Erinnerung, die uns nicht loslässt. Sie führt uns ins Reich der Kindheit. Für die einen ist sie bestimmt von den nicht wiederholbaren üppigen Desserts der Großmutter, für die anderen von karger Rüben-Nachkriegskost. Hunger aber ist das Gegenteil von verfeinerten Sinnen, gestern wie heute. Über den Geschmack von Wassersuppe muss man unter kulinarischem Gesichtspunkt nicht reden – da geht es nur um Leben oder Sterben.

Aber bleiben wir beim Essen als Teil jener Kultur, die es zu schützen gilt vor jenen, die mit immer gleicher Penetranz verkünden, es gelte, den Gürtel wieder enger zu schnallen, weil das Vaterland rufe. Da bin ich ganz auf Seiten derer, die sagen, gut zu essen und zu trinken sei Teil jenes Friedens, der mit eigener Friedfertigkeit beginnt. Mit lauter übergewichtigen Soldaten lässt sich kein Krieg gewinnen – ein Hoffnungsschimmer? Über den befriedenden Effekt des Essens wurde bereits in dem Animationsfilmklassiker »Ratatouille« alles gesagt, wo selbst ein sonst erbarmungsloser Gourmet-Kritiker sich von dem Gericht seiner Kindheit – und einer kochenden Ratte, aber das weiß er nicht – verzaubern lässt. Heimat ist die Erinnerung an ein Lieblingsgericht, das nur die eigene Mutter (oder auch der Vater) kochen konnte.

Doch bleiben wir bei Kommissar Maigret, diesem Typus eines beleibten Spurensuchers, den Simenon jene Dinge essen lässt, wie er sie selbst aus seiner Kindheit kannte. Sein Vater war Wallone und aß am liebsten unverfälschte Fleischgerichte wie Rindersteak, das er auch selbst zubereitete (hart wie Schuhsohle gebraten, erinnert der Sohn). Dazu brauchte es keine weiteren Beilagen, das gebratene Fleisch war das Einzige, worum es ihm beim Essen ging. Sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die die flämische Küche mit in die Ehe brachte – und die war schon komplizierter: fettige Suppen mit viel Zwiebeln etwa gehörten zu ihrem Kochrepertoire. Simenon erinnert sich: »Die Mittagssuppe kam morgens um sieben auf den Herd und köchelte dann stundenlang vor sich hin.«

Ein Koch, so lernte bereits das Kind, braucht ebenso viel Geduld wie ein Kommissar, der versucht, ein Verbrechen aufzuklären – oder ein Autor, der einen Roman schreibt. Da geht es dann immer um Details wie auch um schreiende Widersprüche, das kennt Simenon aus dem Kochbuch seiner Kindheit, etwa bei »Blutwurst mit Äpfeln«. Eine Delikatesse wohl nur für jene, die damit eine positive Erinnerung, ein erhebendes Gefühl verbinden. Oder »Kalbskopf nach Schildkrötenart«, ein Gericht, das, wie der alt gewordene Simenon beklagte, heute kaum einer mehr zuzubereiten vermag. Ein Essen, das er selbst »gotisch« nannte: »Es enthält Kalbskopf, -hirn und -zunge in einer Sauce mit Oliven, Champignons, Trüffeln, hartgekochten Eiern und dazu Pommes Frites.« Leichte Küche sieht anders aus.

Simenon wurde als Erfolgsschriftsteller zwangsläufig reich und berühmt. Dass er dennoch bis zu seinem Tod 1989 in Lausanne – hochbetagt, aber genussfreudig – immer noch schrieb, hat wohl auch damit zu tun, dass er die schwierige Kunst beherrschte, mitten in dem ihm geradezu aufgezwungenen Luxus provozierend einfach zu bleiben. Als Gast bei einer Lesung im ersten Hotel am Platz untergebracht, fällt er sofort unangenehm auf. Von einer Berühmtheit wie ihm hat man anderes erwartet: »Als er das erste Mal in dem großen eleganten Speisesaal frühstückte, bestellte er beim peinlich berührten Ober zwei Rollmopse, Brötchen und zwei Bier.« Genau das hätte er auch sein Alter Ego Maigret tun lassen: etwas nicht Kompatibles, was ihn durch die gefährlich glänzende Welt des schönen Scheins hindurch fest mit seinem Herkommen (Mutter und Vater als ungleiche Koch-Konkurrenz am heimischen Herd) verband.

Und so steht Kommissar Maigret als Vertreter von Recht und Ordnung doch immer auch ein wenig auf der Seite derer, die er als Kriminelle überführen soll. Ein Außenseiter zwischen den Fronten, ein ewiger Stein des Anstoßes, etwa, wenn er ein Luxushotel betritt, denn die Verdächtigen versuchen häufig sich durch – echten oder vorgetäuschten – Reichtum unangreifbar zu machen. Und so steht er bereits im ersten Maigret-Roman von 1931 »Maigret und Pietr der Lette« da: »Trotzig bildete er einen großen schwarzen, reglosen Fleck inmitten der Vergoldungen, der Lichter, des Hin und Her der Abendroben, der duftenden und glitzernden Gestalten.« Aufreißend selbstbewusst, aber nie hochmütig.

Seltsam, diese Vorliebe von Autoren, Kommissaren – oder auch Geheimagenten – mal gut, mal schlecht kochen zu lassen. Zumindest essen sie alle gern und viel. Außer solch synthetische Figuren wie James Bond, von dem nicht einmal bekannt ist, ob er überhaupt aß – doch da gibt es auch keine literarische Vorlage, die zählt. Johannes Mario Simmel schuf in »Es muss nicht immer Kaviar sein« mit Thomas Lieven einen Agenten mit Vorliebe für Kochrezepte. Im wahren Leben war es dann der DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf, der sich als Ruheständler den Geheimnissen der russischen Küche widmete und ein erfolgreiches Kochbuch schrieb.

Der eigenen Nase folgen, heißt, ohne sicheren Instinkt findet man die verborgene Wahrheit niemals. Bereits in seinem ersten Maigret-Roman zeigt er uns diesen Kommissar nicht nur klischeehaft mit Pfeife (die hatte auch Conan Doyles Super-Detektiv Sherlock Holmes), sondern als müden, korpulenten, unter Kopfschmerzen leidenden älteren Mann, der schon frühmorgens in Pariser Bars steht und »zum Wachwerden« einen Weißwein trinkt (dem einen ganzen langen Tag viele andere alkoholische Getränke folgen werden). Aber nie so viel, dass er benebelt wäre und ihn sein wacher Instinkt verlässt.

Im vom Pariser Dauerregen ewig feuchten Mantel geht er immer wieder hinaus, fast wie ein Penner wirkend, der Leute auf der Straße anspricht, ob sie vielleicht etwas für seinen Fall Aufschlussreiches bemerkt haben. Misstrauisch wehrt man ihn ab. Zum Glück hat er seine Frau, die ihm – zu jeder Tages- und Nachtzeit – etwas kocht, seine Sachen trocknet und aufmerksam den einsilbigen Antworten lauscht, die er auf ihre Fragen gibt. Nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil er lange Zeit nichts weiß und dieser Zustand ihn lähmt. Diesmal, so ist regelmäßig sein Gefühl, steht er wirklich wie ein Idiot da. Wenn er dann doch – sehr viel später, als niemand es mehr glaubt – weiß, wie etwas passiert ist, dann verdankt er das seiner Beharrlichkeit, die Simenon ein »trotziges Bekenntnis zur Gewöhnlichkeit« nennt.

Maigret, das ist einer, der nicht zu rauchen aufhört, wenn er in einer Brasserie an der Theke steht, extra dick belegte Sandwichs isst und Bier dazu trinkt, von denen er immer gleich mehrere Gläser zugleich ordert. Als literarische Figur scheint er darum so anziehend, weil er jedes Mal wieder quälend lange (fast das ganze Buch hindurch) nicht von der Stelle kommt. Er steht rum und weiß nicht, was tun.

Es ist bitter ernst gemeint mit der Ratlosigkeit, wenn Simenon über Maigret notiert (und er reflektiert dabei auch seinen Schreibprozess): »Man versagt auf ganzer Linie, wie ein schlechter Akrobat. Aber man kommt doch voran, durch die Kraft, die man im Laufe der Zeit erworben hat. Man fällt und steht wieder auf. Unansehnlich, hilflos watet man durch den Schlamm.« Wenn das nicht Realismus ist, zudem ein in allen Lebenslagen zutiefst tröstlicher!

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