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»Der Wagner-Aufstand war der Prolog für Putins Ende«
Der Autor Wladimir Kaminer über Putin, Europas Ukraine-Politik und Russischsein in Zeiten des Krieges
Herr Kaminer, Ihr neues Buch »Frühstück am Rande der Apokalypse« ist viel ernster als all Ihre anderen Bücher. Ist es für Sie in Zeiten des Krieges unmöglich, ein lustiges Buch zu schreiben?
Ich finde das Buch durchaus lustig. Ich sehe in der Tragik des Krieges auch einen großen Witz. Das Leben ist eine Tragödie, die wir ausblenden. Wir tun so, als würden wir ewig leben und als sei alles in Ordnung. Aber natürlich ist eine Tragödie eine Sackgasse. Doch würden wir uns das immer bewusst machen, würden wir nur weinen und kämen nicht weiter. Eine Tragödie ist auch lächerlich, und auch dieser Krieg und der russische Präsident sind lächerlich.
Für die ukrainische und die russische Bevölkerung ist dieser Krieg nicht nur eine Tragödie, sondern eine Katastrophe.
Die staatlichen russischen Medien versuchen, die Illusion aufrechtzuerhalten, dass es kein Krieg, sondern nur eine Spezialoperation ist. Viele Russen nehmen den Krieg deshalb nicht als Krieg, sondern als eine Art Naturereignis wahr. Neulich hat sich vor der Brücke zur Krim ein 13 Kilometer langer Stau gebildet, weil die Russen in einer Gegend Urlaub machen wollen, die erst vor Kurzem okkupiert worden ist und die die inzwischen stärkste Armee Europas jetzt zurückerobern will. Diese Leute wollen ihre Kinder im Schwarzen Meer baden lassen, in dem seit der Explosion des Kachowka-Staudamms unter anderem Tierkadaver treiben. Es gibt auf der Halbinsel kaum sauberes Trinkwasser, alles ist in einem katastrophalen Zustand, es herrscht Krieg – aber Urlaub auf der Krim muss sein!
Wladimir Kaminer wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Mit seiner Erzählsammlung »Russendisko« und weiteren Bestsellern wurde er zu Deutschlands Russland-Erklärer Nummer 1. »Frühstück am Rande der Apokalypse« erscheint am 23. August.
Wie konnte es zu diesem Krieg kommen?
Ich habe schon aus sehr vielen Quellen, denen ich vertraue, gehört: Putin ist der reichste Mann der Welt. Öl und Gas haben ihn so reich gemacht. Er musste dafür nicht viel machen, nur kassieren. Das ist der Fluch der Ressourcenwirtschaft. Irgendwann hatte Putin so absurd viel Geld, dass er sich immer mehr vom Geld abgewandt und dem großen Thema aller Garagenrentner zugewandt hat.
Was sind Garagenrentner? Und was ist ihr großes Thema?
Putin ist ein Garagenrentner, also ein Mensch, der eigentlich schon das Rentenalter erreicht hat, sich aber noch total fit fühlt. Das große Thema der Garagenrentner ist die Geopolitik. Sie sitzen in Russland auf der Bank hinter der Garage und sagen: »Der Amerikaner ist frech geworden. Das kann man sich doch nicht gefallen lassen.« Dann machen sie sich noch eine Flasche Bier auf. Leider ist das Geplauder eines einseitig gebildeten, soziopathischen Garagenrentners zur Weltpolitik geworden, die nun den ganzen Planeten gefährdet.
Was treibt ihn an?
Er will Russland, das große Land, das quasi aus der Geschichte rausgeschmissen wurde, wieder groß und stark machen. Er will, dass alle dieses Imperium akzeptieren und Angst vor ihm haben. Das hat furchtbare Folgen. Wie soll die heutige Welt mit einem solch komischen Imperium umgehen? Man kann gegenüber diesem Imperium viele Gefühle entwickeln: Ekel, Hass, Gleichgültigkeit. Aber so ein Ding in der unmittelbaren Nachbarschaft zu haben, das von sich denkt, im Meer der Verdorbenheit und der im Untergang begriffenen kapitalistischen Staaten das letzte Bollwerk des Abendlandes und der Moral zu sein, das ist doch irre!
Sieht er nicht die Gefahr, als Zerstörer Russlands in die Geschichte einzugehen?
Er lebt nicht im realen Russland. Das reale Russland ist ja schon jetzt sehr kaputt. In Putins Illusion ist er der von Gott auserwählte Herrscher, der zum Erfolg verpflichtet ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Ukraine jetzt ein paar Quadratkilometer zurückerobert oder nicht. Putin kämpft ja nicht gegen die Ukraine. Er kämpft gegen den Westen, der ihn nicht wahrhaben und nicht auf Augenhöhe mit ihm sprechen wollte.
Wie wird der Krieg weitergehen?
Der Krieg verselbstständigt sich. Die Frontlinie wird sich ein bisschen hin und her verschieben. Es ist viel leichter, einen Krieg zu beginnen als einen Krieg zu beenden. Um diesen Krieg zu entfesseln, brauchte es einen Mann. Um ihn zu beenden, braucht man den Willen von Millionen, die jedoch aus allen möglichen Gründen nicht bereit sind, jetzt die Waffen niederzulegen. Inzwischen hat fast jeder Ukrainer jemanden aus der Familie im Krieg verloren. Diese Menschen sollen nicht umsonst gestorben sein.
Auch Putin hat kein Interesse an einer Deeskalation.
Nein, die gesamte russische Politik beschäftigt sich derzeit fast ausschließlich mit der Rechtfertigung des Krieges. Und Rechtfertigung bedeutet Fortsetzung. Es gibt inzwischen Dutzende Theorien, warum der Krieg unvermeidlich war. Jede für sich genommen, ist leicht zu widerlegen. Aber alle zusammen holen gerade das Dunkle aus dem Menschen hervor. Auch in der Ukraine wird die Verteidigung des Landes mit Patriotismus gerechtfertigt. Die nationale Souveränität ist dabei wichtiger als ein konkretes menschliches Leben. Das Leben der Bürger ist zweitrangig, der Staat ist wichtiger.
Finden Sie den ukrainischen Patriotismus falsch?
(Denkt lange nach). Das ist eine sehr knifflige Frage. Ich möchte die Beantwortung jedem selbst überlassen. Wer bin ich, um sagen zu können, was richtig und was falsch ist? Ich würde niemals Menschen dazu aufrufen, ihr Leben zu opfern, egal für was. Ich glaube, dass weder in Russland noch in der Ukraine die Mehrheit der Menschen patriotisch ist. Auch in der Ukraine sind nicht alle bereit, für ihr Land zu sterben. Viele wollen leben, vielleicht in einem anderen Land. In Deutschland und in allen anderen Ländern, die ich besuche, treffe ich ukrainische Männer im wehrfähigen Alter.
Ich glaube schon, dass viele Ukrainerinnen und Ukrainer Patriotinnen und Patrioten sind.
Die Ukraine hat einen genialen Präsidenten. Selenskyj macht nach innen und außen eine sehr gute Figur. Er motiviert die Ukrainer für diesen existenziellen Kampf um ihr Land. Es geht um ihr Überleben. Sie haben gesehen, was die Russen auf besetzten Gebieten machen. Stichwort Butscha. Weil sie auf ihrem eigenen Territorium für ihr Land kämpfen, ist die Motivierung für Selenskyj nicht so kostenaufwendig wie für den Aggressor. Was Putin jetzt an Geld ausgibt, ist beispiellos in der Geschichte dieses Regimes und aller Regime zuvor.
Auch in Russland verursacht der Krieg unermessliches Leid.
Ja, in meiner Heimat führt der Krieg zu einer tiefen psychischen Traumatisierung. Auch wenn die Staatsmedien es nicht veröffentlichen, gibt es immer wieder Nachrichten wie die des von der Front zurückgekehrten Soldaten, der seine ganze Familie aufschlitzt. Die erste Folge des Krieges ist die Entmenschlichung. Die Zivilisation ist nur eine sehr feine Schicht auf dem menschlichen Wesen. Weil sich in Russland niemand für diesen Krieg schämt, fliegt dieser Staub der Aufklärung jetzt mit erstaunlicher Schnelligkeit weg.
Welche Rolle spielt Europa in diesem Krieg?
Im Gegensatz zur Ukraine ist es für Europa kein existenzieller Kampf. Es ist eine Rechnung. Was nutzt uns mehr? Wollen wir die Ukraine bedingungslos unterstützen, damit sie dieses Russland kaputt macht, es auseinanderfällt und die Atomwaffen zerbröseln? Nein, das wollen wir nicht.
Was will Europa?
Wir wollen am liebsten, dass die Ukraine uns Russland auf Distanz hält. Für Europa ist dieser Krieg wie eine Investition. Wir Europäer investieren in die Ukraine – einen frischen, jungen, proeuropäischen, der Demokratie zugeneigten Staat. Wir geben aber nicht alles, was sie fordern. Wir geben nur ungefähr ein Viertel. Dann wollen wir Zwischenergebnisse sehen – und dann schauen wir weiter. Sollte die laufende ukrainische Offensive nicht erfolgreich sein, gibt es für den Investor zwei Optionen: Er lässt die Ukraine fallen oder er muss selbst in der Ukraine kämpfen.
Was halten Sie von der europäischen Ukraine-Politik?
Die europäische Politik hat keine klare Linie, sie ist ein zusammengeklebter Haufen von Ängsten und Vorsichtsmaßnahmen. Sie hat es in 16 Monaten nicht geschafft, ein Exit-Angebot für ein Russland nach Putin zu machen: Unter welchen Umständen können die Sanktionen aufgehoben werden? Unter welchen Umständen können die Gespräche mit der Russischen Föderation weitergeführt werden? Welche Kriegsverbrecher sollen ausgeliefert werden? Und wer ist nicht Kriegsverbrecher, wo doch mittlerweile der letzte Straßenfeger in diesen Krieg reingezogen worden ist?
Hat Putin Angst?
Ja. Als die von ihm selbst erschaffene Armee der Hölle, die Gruppe Wagner, plötzlich in die falsche Richtung gefahren ist, hat man gesehen, wie verunsichert er war. Schon allein für dieses Bild hat sich der Trip gelohnt.
Wann wird dieser Krieg zu Ende gehen?
Putin weiß, dass sein Leben von diesem Krieg abhängt. Er ist das Gesicht des Krieges, er ist der Krieg. Und solange der Krieg läuft, lebt er. Putin kann den Krieg deshalb nicht beenden. Jeder neue russische Führer würde das tun. Und der Wagner-Vorstoß war ein klares Zeichen, auf welch tönernen Füßen Putins Regime steht.
Aber Prigoschin hat seinen Marsch nach Moskau unverrichteter Dinge abgebrochen.
Ja, nach guter russischer Tradition ist niemand auf die Straße gegangen, um Putin und sein Regime in Schutz zu nehmen. Der Koch (Anmerkung: gemeint ist Wagner-Chef Prigoschin) ist ja kein Politiker, er ist eine zufällige Erscheinung auf dieser Machtetage. Er wusste selbst nicht, was er da macht. Doch die anderen Eliten haben sehr wohl registriert, wie schwach Putin ist. Das ist für Putin viel gefährlicher als eine Niederlage an der Front. Ich glaube, der Wagner-Aufstand war der Prolog für Putins Ende. Ich glaube, dass die Tragödie – Gott sei Dank – noch in diesem Jahr zu Ende gehen wird und wir dann mit gutem Ausatmen das Theater verlassen werden.
Sie glauben, dass der Krieg noch in diesem Jahr aufhören wird?
Das ist meine große Hoffnung. Und das wird ohne Putin passieren. Damit Russland nicht explodiert, nicht auseinanderfällt, muss der Krieg beendet werden. Mit Putin geht das nicht, also muss es ohne ihn passieren. Was auch immer nach Putin kommt, es wird nicht alles schön sein, aber zumindest wird der Krieg aufhören, das sinnlose Sterben.
Und was macht Putin dann?
Putin wird sich nicht umbringen. Wenn ich über sein Schicksal entscheiden könnte, würde ich dafür plädieren, dass er weiterlebt und endlich begreift, was er angerichtet hat. Er hat ja angeblich kein Internet und bekommt nur ausgewählte Informationen in einer Mappe. Doch er soll all die Fotos der getöteten Kinder sehen, er soll sehen, welches Leid er der Ukraine und seinem eigenen Land angetan hat. Ich glaube, das wäre die schlimmste Strafe.
Nicht erst seit Beginn des Krieges äußern Sie sich sehr kritisch gegenüber der russischen Politik. Sie leben zwar in Berlin, aber der Arm der Regierung ist lang. Litwinenko und Nawalny sind nur zwei Beispiele. Haben Sie Angst um Ihr Leben?
Dieser kleine Mann, dieser Garagenrentner, hat es geschafft, Abermillionen in eine Notsituation zu bringen und ihnen einen irren Schaden zuzufügen. Und ich rede jetzt noch nicht mal von den Menschen in der Ukraine. Ich rede von politischen Aktivisten, die im Knast sitzen oder untertauchen mussten, von Offizieren, die jetzt in einem unrechten Krieg kämpfen müssen, von Menschen, deren Lebensentwürfe er kaputtgemacht hat. Es ist unglaublich, wie viel Unglück ein einziger Mensch über sein eigenes Land bringen kann. Nicht umsonst wird Putin von vielen Russen mit Hitler verglichen. Worauf ich hinaus will: Dieser Präsident hat so viele Feinde, dass all das Gift, das in den letzten 30 Jahren produziert wurde, nicht reicht, um alle seine Feinde zu vergiften.
Sie haben also keine Angst, dass Sie mundtot gemacht werden sollen?
Sicher stehe ich auch auf dieser Feindesliste, aber vielleicht irgendwo auf Seite 1305.
Glauben Sie, dass Seite 1305 ein sicherer Platz ist?
Es ist einfach zu eklig, um auch nur darüber nachzudenken.
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