Lieferando-Kuriere streiken für Tarifvertrag

Bei dem Lieferdienst wird für höhere Entgelte und mehr Urlaub gestreikt - notfalls auch noch öfter

  • Moritz Aschemeyer
  • Lesedauer: 6 Min.
Rund 150 Fahrer von Lieferando protestierten vor der Konzernzentrale unter dem Motto »Streikerando« für einen Tarifvertrag.
Rund 150 Fahrer von Lieferando protestierten vor der Konzernzentrale unter dem Motto »Streikerando« für einen Tarifvertrag.

Werkstore gibt es in der Plattformökonomie nahezu keine mehr. Auch nicht bei Lieferando in Berlin, dem zum niederländischen Konzern Just Eat Takeaway gehörenden Platzhirsch in Sachen Essenslieferungen. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) legt also den Ort ihrer Kundgebung zum nunmehr fünften Warnstreik der bundesweiten Kampagne für einen Tarifvertrag dorthin, wo sich die Gegenseite dingfest machen lässt – vor die Deutschlandzentrale des Unternehmens in Kreuzberg.

Bis zu 90 Personen demonstrieren am schwülen Donnerstagnachmittag vor dem imposanten siebenstöckigen Neubau an der Spree. Betriebsräte aus dem ganzen Bundesgebiet sind zur Unterstützung nach Berlin mitgekommen. Die Stimmung ist ausgelassen, aus einer Anlage erklingt »I want to ride my bicycle« (Ich möchte mit meinem Fahrrad fahren) von Queen. Auf den Boden werden Slogans gesprüht. Auf den verteilten Warnwesten prangt ein zum Totenkopf mit Besteck umgestaltetes Lieferando-Logo.

Bilal, der nur seinen Vornamen nennen will, ist von dem Streik begeistert. Der 26-jährige Syrer fährt seit 2021 in Berlin für Lieferando, verdient laut eigenen Angaben für 35 Wochenstunden oft weniger als 1900 Euro brutto im Monat, mit Schwankungen aufgrund der Bonuszahlungen. Diese werden vor allem von der Anzahl der Lieferungen und Arbeitseinsätze zu Stoßzeiten bestimmt. Dass bei Lieferando gestreikt wird, hat er erst kürzlich erfahren, vom Betriebsrat. »Ich bin zwar wenig zuversichtlich, dass die Forderungen sofort erfüllt werden«, meint er. »Aber egal, dann streiken wir halt ein zweites, drittes, viertes Mal.« Auch weitere arabischsprachige Kollegen sind heute hier. Vernetzt haben sie sich in einer Chatgruppe, in der sie sich über Probleme am Arbeitsplatz austauschen und Sprachbarrieren entgegenwirken. Ein Thema, das hier häufig zur Sprache kommt, sind lange Fahrtwege, die den Lohn schmälerten. Konfrontiert mit diesen Beschwerden betont ein Lieferando-Sprecher, die Fahrtzeiten seien überschaubar. »Letztendlich hat keiner ein Interesse daran, dass die Lieferwege übermäßig lang sind, weder der Fahrer noch der Kunde, das Unternehmen oder der Gastronom«, betont er.

Gerade die Bonuszahlungen sind Mark Baumeister ein Dorn im Auge. Als der NGG-Referatsleiter für Gastgewerbe ans Mikrofon tritt, wird das von den Versammelten lautstark begrüßt. »Das Geschäftsrisiko gehört auf den Rücken des Unternehmens«, sagt er. Durch die Bonuszahlungen bei einem Grundlohn von zwölf Euro die Stunde könne niemand seinen Lohn vorhersehen, bei Auftragsflaute liege das Risiko bei den Fahrern. Lieferando argumentiert, Fahrer würden durchschnittlich mehr als 14 Euro die Stunde verdienen. Das sei »mehr als Servicekräfte der Gastronomie und vergleichbar viel wie Lieferfahrer der Systemgastronomie nach Tarif«, heißt es. Diesen Vergleich will Baumeister nicht gelten lassen. »Im Tarifvertrag der Systemgastronomie wird Urlaubs- und Weihnachtsgeld sowie Nachtzuschlag gezahlt«, so der Gewerkschafter.

Neben einer Lohnuntergrenze von mindestens 15 Euro hat sich die Tarifkommission Nacht- und Wochenendzuschläge, ein 13. Monatsgehalt sowie eine Aufstockung des Urlaubs von derzeit vier auf sechs Wochen zum Ziel gesetzt. Auch die Heimfahrt nach der letzten Schicht soll voll bezahlt werden, um die Anreize zu senken, die Fahrer quer durch die Stadt zu schicken. Lieferando erklärt auf Anfrage, faire Wettbewerbsbedingungen zu brauchen. »Ein Inseltarifvertrag würde Wettbewerbsunterschiede weiter verschärfen, sodass noch weniger Anbieter direkt anstellen, zulasten der Rechte und Bezüge von Kurierfahrenden branchenweit«.

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Lieferandos Mutterkonzern Just Eat Takeaway fährt trotz Marktdominanz in Ländern wie Deutschland weiterhin keine Gewinne ein. In den vergangenen zwei Geschäftsjahren summierten sich die Verluste des Konzerns auf über 6,5 Milliarden Euro – wenngleich ein Gros aus Wertbereinigungen infolge der Übernahme des US-Konkurrenten Grubhub stammt. Der Eindruck, dass sich allein mit Essensbestellungen die langfristig angestrebte Profitabilität nur schwerlich erreichen lässt, wird von der in den vergangenen Monaten bei Lieferando gestarteten Ausweitung des Liefergeschäfts auf Kosmetikartikel und Elektronik genährt. Ob der Plan aufgeht, ist ungewiss. Lohnsprünge dürften für einen schnellen Weg in die schwarzen Zahlen allerdings eher hinderlich sein. Auch an Arbeitskräften scheint es Lieferando nicht zu mangeln. Trotz allgemeinem Fachkräftemangel stelle man derzeit weiterhin ein, lässt das Unternehmen auf Anfrage wissen.

Vom Streikgeschehen zeigt sich Lieferando unbeeindruckt. Es habe bei dem Ausstand von 14 bis 22 Uhr keine wesentlichen Einschränkungen gegeben. »Bei Lieferando zu bestellen, war gestern uneingeschränkt möglich und dies haben unsere Kund:innen auch wie gewohnt gemacht«, teilt ein Sprecher am Freitag auf Anfrage mit. An der Demonstration hätten sich rund 50 Personen beteiligt. »Etwa 20 Fahrer*innen hatten gestern bis zum frühen Abend ihre Arbeit anlässlich des Streiks niedergelegt, während mehr als 1000 Lieferando-Fahrer*innen gestern in Berlin Bestellungen ausgeliefert haben«, heißt es.

Gewerkschafter Baumeister kann die Streikbeteiligung nicht genau beziffern. »In anderen Städten haben wir den Betrieb mindestens für drei Stunden stillgelegt«, sagt er. In Berlin sei das aufgrund der dezentralen Verteilung der Arbeit und der Größe der Stadt nicht machbar. »Das wollten wir aber auch gar nicht. Uns ging es darum, vor der Zentrale zu streiken und den Leuten auf die Nerven zu gehen«, so der Gewerkschafter. Für ihn sei der Tag dennoch ein Erfolg, sagt er. »Wir haben gezeigt, dass wir im Tarifkampf geeint dastehen und einen langen Atem haben.« Für die Zukunft plane man unter anderem 48-Stunden-Warnstreiks, lässt der Gewerkschafter wissen.

Die Kampagne läuft allerdings nicht ohne strategische Differenzen. Insbesondere darüber, wie man das institutionelle Ziel des Tarifabschlusses mit einer langfristigen Bindung der stark fluktuierenden Belegschaft an die Bewegung verbindet, kommt es mitunter zu Unstimmigkeiten.

Baumeister begrüßt die Vielfalt der Strategien. »Gerade im Bereich der Ansprache, auch von migrantischen Kollegen, werden gerade viele neue Dinge erprobt.« Von unabhängigen Arbeitnehmerkollektiven, die durch niedrigschwellige Treffen teils sehr nahe an den Belegschaften seien, lerne man. Ein großes Problem sieht der Gewerkschafter in der Unterrichtung über Arbeitnehmerrechte. In einigen Städten gebe es hierfür bereits Vertrauensleute. Baumeister betont gleichermaßen auch die gute Verankerung der Tarifforderungen in der Belegschaft: »Die Tarifkommission ist von den NGG-Mitgliedern basisdemokratisch gewählt worden.« Zudem hätten sich alle NGG-Regionen von sich aus der Kampagne angeschlossen.

Neben der Auseinandersetzung um einen Tarifvertrag steht auch der Umgang Lieferandos mit Datenschutz und der Mitarbeiter-App im Fokus von Gewerkschaftern und Betriebsräten. »Als Gesamtbetriebsrat haben wir versucht, Einsicht in den Algorithmus zu erhalten«, erklärt Leonard Müller, der mittlerweile nur noch im Berliner Betriebsrat sitzt. Der 27-Jährige ist frustriert. »Wir werden vom Unternehmen übergangen, Updates der Mitarbeiter-App werden einfach aus der Just-Eat-Zentrale in den Niederlanden europaweit eingeführt«, so Müller. Das Unternehmen widerspricht. »Der Gesamtbetriebsrat wird regelmäßig auch über technische Details informiert«, so ein Sprecher auf Anfrage.

Derzeit bestehen rechtliche Streitigkeiten bei bereits implementierten Systemen sowie bei der Nutzung algorithmischer Managementsysteme durch internationale Konzerne. »Um in diesem Kontext Beschäftigtenrechte zu stärken, ist einerseits ein nationales Beschäftigtendatenschutzgesetz notwendig, das die Mitbestimmung durch Betriebsräte für jedwede Datenverarbeitung klar festschreibt«, sagt der Bundestagsabgeordnete Pascal Meiser (Linke). Ein weiteres Problem sei die Rechtsdurchsetzung. »Hierfür bedarf es stärkerer Sanktionen.« Die bisherigen Bußgeldregelungen hätten sich als zu schwach erwiesen.

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