Ukraine: Kein Platz für Trauer oder Freude

Am ukrainischen Unabhängigkeitstag gibt es kaum Gründe zu feiern

  • Bernhard Clasen
  • Lesedauer: 5 Min.
Der Unabhängigkeitstag in der Ukraine am 24. August steht ganz im Zeichen des Krieges gegen Russland: Soldaten bereiten eine Ausstellung erbeuteter russischer Panzer auf einer Straße in Kiew vor.
Der Unabhängigkeitstag in der Ukraine am 24. August steht ganz im Zeichen des Krieges gegen Russland: Soldaten bereiten eine Ausstellung erbeuteter russischer Panzer auf einer Straße in Kiew vor.

Die ukrainische Bloggerin Olena Monowa kann es nicht fassen: Wenn am 24. August die Ukraine ihre Unabhängigkeit feiert, dürfen russische Staatsbeamte zu Hause bleiben. Mit großer Schadenfreude berichtet sie auf ihrer Facebook-Seite von einer Anordnung Moskauer Behörden an staatliche Mitarbeiter*innen, die im Moskauer Bürokomplex Moskau City arbeiten, am 24. August im Homeoffice zu arbeiten. Jetzt fürchten sich also die Russen vor dem ukrainischen Unabhängigkeitstag. Für sie sei es ein besonderer Tag, dass russische Staatsbeamte ausgerechnet am ukrainischen Unabhängigkeitstag nicht zur Arbeit gehen sollen, jubelt sie. »Gerade jetzt, vor unseren Augen, wird eine neue Tradition in Fucking Russia geboren: das Verstecken in Löchern, wenn die Ukraine einen Feiertag hat.« Jetzt sei es nicht mehr so wie im Frühjahr 2022. »Jetzt sind wir an der Reihe«. Tables are meant for turning.

Vieles spricht dafür, dass sie recht hat, dass das Geschäftsviertel Moskau City, in dem auch einige Ministerien beheimatet sind, auch am 24. August von ukrainischen Drohnen angegriffen werden wird. Schon in der Nacht zum Mittwoch ist Moskau City von Drohnen angegriffen worden, mussten alle Hauptstadtflughäfen zeitweise den Betrieb einstellen. Verteidigung und Verhandlungen waren gestern. Heute geht es um Vergeltung und Vernichtung. Adrenalin hat man genug.

Auch Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, schlägt in diese Kerbe: »Wir sind bereit, so lange zu kämpfen, wie es nötig ist, um das Problem des sogenannten Russlands von der Sicherheitsagenda zu streichen. Daher ist all das Gerede über Verhandlungen, Vermeidung von Eskalation und Beschwichtigung Wasser auf die Mühlen und ein Spiel zugunsten Russlands. Das einzige Format für einen dauerhaften Frieden ist eine Niederlage und Zersplitterung Russlands. Wir sind nicht die Ersten, die zu den Waffen greifen, aber wir werden die Letzten sein, die sie niederlegen, bis die Gerechtigkeit wiederhergestellt ist. Diejenigen, die für das Verbrechen der Entfesselung des Krieges verantwortlich sind, werden bestraft – und es gibt keine Macht in der Welt, die uns daran hindern wird«, so Danilow in der ukrainischen Online-Zeitung »New Voice«.

Mit jeder russischen Rakete, die in ukrainische Wohnhäuser einschlägt, wächst der Hass das Nachbarland. Und der russische Ex-Präsident Dmitri Medwedew, derzeit stellvertretender Chef des russischen Sicherheitsrates, tut sein Übriges, gießt auch Öl in dieses Feuer. »Wir dürfen nicht aufhören, bis der derzeitige ukrainische Staat, der von Natur aus terroristisch ist, vollständig zerschlagen ist. Er muss bis auf den Grund zerstört werden. Oder besser gesagt, so, dass nicht einmal Asche von ihm übrigbleibt. Damit diese Abscheulichkeit unter keinen Umständen wiederbelebt werden kann«, zitiert ihn das russische Portal news.ru.

Die Stimmung im öffentlichen Raum in der Ukraine ist geprägt von einer Sicherheit, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnen wird und dem wachsenden Bedürfnis, den Krieg auf das russische Territorium auszuweiten. Doch es ist fraglich, ob die im öffentlichen Raum geäußerten Sichtweisen repräsentativ sind. In der Ukraine ist es verboten, in Fragen von Krieg und Frieden von der offiziellen Linie abweichende Meinungen zu äußern. So ist nach dem im März 2022 in Kraft getretenen Strafrechtsparagraf 436-2 strafbar, wer die »bewaffnete Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine, die 2014 begann, rechtfertigt, als rechtmäßig anerkennt oder leugnet«. Verboten ist es auch, zu sagen, 2014 habe im Land Bürgerkrieg geherrscht.

Wenig sichtbare Erfolge der Gegenoffensive und ein blutiger Sommer lassen den Glauben an die Einheit und unendliche Ausdauer zusehends brüchig werden, analysiert die »Washington Post«. Es gebe keine guten Nachrichten, gerade jetzt, wo man sie so dringend brauchen würde. Vorbei sind auch die Zeiten, in denen Männer vor Wehrämtern Schlange standen, um an der Front kämpfen zu dürfen. 20 000 Männer, so zitiert die »Financial Times« einen Sprecher der Grenztruppen, seien im Laufe des Krieges bestraft worden, weil sie versucht hätten, illegal das Land zu verlassen.

Und der stellvertretende Chef der Verwaltung des Bezirkes Odessa, Dmitrij Radulow, berichtet über die negativen Folgen der Mobilisierung für die Wirtschaft. Aus Angst, am Arbeitsplatz einen Einberufungsbescheid zu erhalten, würden viele Männer schwarz arbeiten. »In der Region Odessa gibt es Stellen, wo früher 100 bis 150 Menschen offiziell in Unternehmen arbeiteten, heute aber formal nur noch 30 bis 40«, so Radulow. Faktisch würden nicht weniger Menschen dort arbeiten, aber die meisten erhielten nun ihren Lohn in Umschlägen.

Besonders depressiv ist die Stimmung in Charkiw. Vor dem Hintergrund einer schleppenden und blutigen Gegenoffensive, dem Weggang wichtiger Betriebe aus der Stadt sei nicht auszuschließen, dass Charkiw nach dem Krieg keine Millionenstadt mehr sein wird, analysiert das in Charkiw ansässige Portal assembly.org.ua. Viele überlegten sich angesichts der grassierenden Korruption und Perspektivlosigkeit, wie sie die Stadt und oftmals auch das Land verlassen können. Eine breite Mehrheit der Bevölkerung stehe in Fragen von Krieg und Frieden hinter der Regierung, so eine Meinungsumfrage vom Juni, durchgeführt von der Stiftung »Demokratische Initiative« und vom »Zentrum für politische Soziologie«. Demnach ist mehr als die Hälfte der Befragten (53 Prozent) bereit, die Folgen des Krieges jetzt zu ertragen, um in Zukunft einen Sieg zu erringen. Gleichzeitig hätten sich 30 Prozent der Ukrainer für ein schnelles Ende zu jedem Preis ausgesprochen.

Große Feierlichkeiten wird es dieses Jahr, wie im letzten Jahr auch, am Unabhängigkeitstag nicht geben – aus Sicherheitsgründen. Auch für Trauer ist wenig Platz. Nur die ständig wachsende Anzahl an Gräbern spricht eine deutliche Sprache. Doch darüber berichtet das ukrainische Fernsehen kaum.

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