Fachkräftemangel: Pharmazie-Wüsten in Frankreich

Insbesondere in ländlichen Gegenden ist die Anzahl an Apotheken stark rückläufig

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 3 Min.

Gemäß eines vor wenigen Tagen veröffentlichten Dekrets des französischen Gesundheitsministers sind die Apotheker ab sofort befugt, anstelle eines Arztes sämtliche Arten von Impfungen vorzunehmen und nicht mehr nur den jährlichen Grippeschutz. Damit wird auf den fortschreitenden Ärztemangel vor allem auf dem Lande reagiert, wo sich immer weniger junge Nachwuchsmediziner niederlassen wollen und dadurch regelrechte »medizinische Wüsten« entstehen. Offiziellen Angaben zufolge hat heute bereits jeder neunte Franzose keinen Hausarzt mehr.

Doch es mangelt inzwischen auch an Apothekern: »Es ist schon seit Jahren schwieriger geworden, qualifiziertes Personal zu finden, aber seit der Corona-Pandemie ist es katastrophal«, meint die 68-jährige Brigitte Boyer, Apothekerin in der Kleinstadt Donzère im südostfranzösischen Departement Drôme. »So etwas habe ich in 30 Jahren Berufspraxis nicht erlebt.« Früher sei eine neue Stelle nie länger als einen Monat vakant geblieben, jetzt suche sie seit eineinhalb Jahren vergebens einen Stellvertreter. »Da ich keinen finde, muss ich die Öffnungszeiten radikal kürzen.«

Vielerorts mussten in diesem Sommer Apotheken während des Jahresurlaubs des Inhabers und der Mitarbeiter schließen, weil man nicht wie in früheren Jahren für diese Zeit Vertreter fand. »Der Personalnotstand in unserer Branche wird immer schlimmer«, schätzt Christophe Le Hall, Präsident der Nationalen Apotheker-Union, ein. Nach seinen Angaben fehlen landesweit bereits 15 000 Apotheker, Pharmazeutisch-Kaufmännische Angestellte (PKA) und Pharmazeutisch-Technische Assistenten (PTA). Oft kann ein Apotheker, der in Rente gehen will, keinen Nachfolger finden, selbst wenn er seine Offizin nicht verkaufen, sondern kostenlos übergeben will, um langjährige Kunden nicht im Stich zu lassen. Vor allem aufs Land, in Dörfer oder Kleinstädte kann man immer seltener Berufseinsteiger locken. Denen ist die Umgebung meist zu langweilig.

Außerdem wurden in den zurückliegenden Jahren an den französischen Universitäten deutlich weniger Apotheker ausgebildet, als nötig gewesen wären, um die Nachfolge zu sichern. Der an sich schon nicht einfache Studiengang wurde durch ein besonders strenges Auswahlverfahren unattraktiv gemacht. Schließlich haben die Branchenorganisationen bisher kaum in der Öffentlichkeit für diesen Beruf geworben, obwohl er mit einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 7700 Euro netto durchaus attraktiv ist.

Aus all diesen Gründen mussten in den vergangenen zehn Jahren landesweit 1740 Apotheken geschlossen werden. Ihre Gesamtzahl sank auf etwas über 24 000.

Personalprobleme haben sogar die Überseedepartements in der Karibik, obwohl dort die Arbeitszeit niedriger und das Klima angenehmer ist als in Europa. Und dort werden meist ein überdurchschnittliches Gehalt, eine mietfreie Dienstwohnung und ein kostenloser Hin- und Rückflug pro Jahr nach Frankreich angeboten.

Doch wo sind die Apotheker oder Apothekenmitarbeiter geblieben? »Wie in vielen Berufen hat es auch bei uns durch die Corona-Pandemie vor allem unter den jüngeren Generationen erhebliche Veränderungen in der Haltung zur Arbeit, zum Leistungsdruck, zum Verhältnis von Arbeitszeit und Zeit für die Familie gegeben«, schätzt Pierre-Olivier Variot, der Vorsitzende des Apotheker-Berufsverbandes USPO ein. »Vor allem das Arbeiten in den Abendstunden oder am Wochenende wird immer weniger akzeptiert.« Außerdem gibt es den Trend, kein festes Arbeitsverhältnis einzugehen, sondern sich dank der zahlreichen Stellenangebote »mit befristeten Arbeitsverträgen durchs Land zu jobben«, wie die im wenig attraktiven Nordfrankreich geborene und ausgebildete Diplom-Apothekerin Emmanuelle Richard meint. So lerne man immer neue Gegenden, Orte und Menschen kennen.

Viele Apotheker versuchen jetzt, mit dem vorhandenen Fachpersonal auszukommen. Für Hilfsarbeiten wie das Nachfüllen der Bestände, wo kein Kontakt zu den Kunden besteht und weder medizinische noch pharmazeutische Kenntnisse erforderlich sind, werden häufig berufsfremde Mitarbeiter eingestellt und vor Ort angelernt.

Die Branchenvereinigungen haben die Regierung jetzt aufgefordert, die Zulassungsvorschriften für ausländische Pharmazie-Fachkräfte zu lockern, indem in Frankreich der Berufs- oder Studienabschluss aus deutlich mehr Ländern als bisher anerkannt wird. Ansonsten sehe die Zukunft düster aus, denn rund 5000 Apotheker stünden kurz vor dem Rentenalter und fänden keinen Nachfolger.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.