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Verschwundene in Chile: Keine befriedigenden Antworten
Die deutschen Institutionen sind bei der Aufklärung wenig hilfreich
Aufgewachsen ist Juan Rojas-Vásquez in der Nähe von Los Carros, einem Dorf in der Umgebung der Colonia Dignidad. Er ist der jüngste von sieben Geschwistern einer Familie, die auf dem Landgut »El Palomar« lebte. Vater Miguel Rojas, der Mitglied der Sozialistischen Partei war, arbeitete im Haus des Großgrundbesitzers Ignacio Urrutia de la Sota, kümmerte sich um das Essen für dessen Familie und versorgte das Haus. »Er machte dort Käse und Brot, er konnte nähen, Schuhe reparieren«, einfach alles, sagt Margarita. Sie erinnert sich, dass die Landarbeiter*innen schlecht behandelt wurden. »Als die Landreform kam, sprach mein Vater mit anderen darüber, dass sie bessere Löhne fordern müssten«, so Margarita.
Juan und seine Schwester erlebten als Jugendliche mit, wie ihr Vater (52) am 13. Oktober 1973 verhaftet wurde. »Polizisten kamen in einem roten Pickup. Am Steuer saß ein Mensch in Zivil«, erinnert sich Margarita. »Sie schlugen die Haustür ein und holten meinen Vater aus dem Bett. Meine letzte Erinnerung an ihn ist, wie er versucht, sich das Hemd zuzuknüpfen und wie er auf den Pickup geschubst wird«, sagt Margarita. »Wir standen alle unter Schock«, sagt Juan. Er erinnert sich, dass die Polizisten mit ihren Gewehren auch auf die Kinder zielten. In derselben Nacht wurde auch Gilberto (28), Tischler und Mitglied der Kommunistischen Partei, aus einem anderen Haus verschleppt, wo er übernachtet hatte.
Margarita musste ihre landwirtschaftliche Ausbildung abbrechen und arbeiten. »Alle in unserer Familie sind auf der Stelle getreten. Zuerst habe ich alle möglichen Jobs gemacht, später habe ich dann mein Geschäft aufgemacht.« Sie engagiert sich im Verband der Angehörigen der Verschwundenen, arbeitet mit den Anwält*innen zusammen und setzte sich für soziale Forderungen und 1989 in der Kampagne für das »No«, für ein Ende der Diktatur ein.
Bis heute fordert sie Aufklärung des Schicksals ihres Vaters und ihres Bruders. »Mein größter Wunsch ist zu wissen, was mit meinem Vater und meinem Bruder geschehen ist, ob sie ins Meer geworfen oder in der Erde verscharrt wurden. Wenn ich nur das kleinste Knöchelchen von ihnen bekommen würde, würde ich es an mich nehmen.« Heute will sie auch, dass es eine Gedenkstätte in der Villa Baviera gibt. »Das soll nicht nur ein Stein sein, sondern ein Haus der Kultur, wo Besucher*innen etwas über die Geschichte der Colonia Dignidad und über die verschwundenen politischen Gefangenen erfahren.«
Margarita erkannte die Polizisten, die ihren Vater nachts festgenommen und nach Catillo, der nahe der Colonia Dignidad gelegenen Polizeistation, gebracht haben. Danach war kein Ort auszumachen, an dem sie noch lebend gesehen wurden. Mutmaßlich wurden sie in die Colonia Dignidad gebracht und dort ermordet. Viele Jahre später kam es zu einer Gegenüberstellung mit den Polizisten. Sie wurden jedoch nie verurteilt.
Juan suchte seinen Vater und Bruder und arbeitete mit solidarischen kirchlichen Institutionen und anderen Angehörigen von Verschwundenen zusammen. Als die Situation für ihn zu gefährlich wurde, sorgten die Vicaría de la Solidaridad und Amnesty International dafür, dass er außer Landes und nach Deutschland kam.
Seitdem lebt er in Stuttgart, arbeitete als Krankenpfleger, Mediator und Tänzer. Inzwischen hat er hier Kinder und Enkel und ist deutscher Staatsangehöriger. Er hat seine Geschichte in dem Buch »Juan zwischen zwei Welten« dokumentiert. Von deutschen Institutionen fordert er Unterstützung bei der Aufklärung des Schicksals seiner verschwundenen Angehörigen, schreibt Briefe an Außenministerin Baerbock, Bundespräsident Steinmeier und andere. Eine befriedigende Antwort hat er nicht bekommen. Zum 50. Jahrestag des Putsches wird er in Chile sein und hofft, dass sich über den Nationalen Suchplan, den die Regierung am 30. August vorstellen wird, auch für die Suche nach seinen Liebsten etwas bewegt.
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