LK-99 ist wahrscheinlich doch kein Wundermaterial

Das neuartige Material sollte angeblich bei Raumtemperatur ohne Widerstand Strom leiten, aber Wissenschaftler zweifeln

  • Ilka Petermann
  • Lesedauer: 5 Min.

Im Juli 2023 erschien ein wissenschaftliches Preprint über die erstaunlichen Eigenschaften der Verbindung LK-99. Diese soll alle Vorteile eines Supraleiters bieten, ohne auf eisige Temperaturen gekühlt zu werden oder unter hohen Druck gesetzt werden zu müssen. Doch die Wissenschafts-Community zweifelt an der Auswertung und Interpretation der Experimente.

Im April 1911 machten der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes und Quecksilber einen Sprung: ersterer vor Überraschung, letzteres durch extremes Kühlen. Kamerlingh Onnes’ Hauptarbeitsgebiet war die Verflüssigung von Gasen, was den Schwerpunkt seiner Experimente auf die tiefsten im Labor erreichbaren Temperaturen legte. In einem wissenschaftlichen Wettrennen stellte Onnes als Erster flüssiges Helium (Siedepunkt -268,93 Grad Celsius) her und kühlte es schrittweise noch weiter ab. In anderen Experimenten zur Untersuchung der Leitfähigkeit von Metallen beobachtete er dann, dass Quecksilber knapp unterhalb von -268,96 °C sprungartig seinen elektrischen Widerstand verlor – ein Strom sollte bei einer solchen »Supraleitfähigkeit« völlig verlustfrei fließen können. Rund zwanzig Jahre später entdeckten die Physiker Walther Meißner und Robert Ochsenfeld, dass Supraleiter nicht nur ideale Leiter, sondern auch ideale Diamagneten sind: Der nach ihnen benannte Meißner-Ochsenfeld-Effekt beschreibt die Eigenschaft eines supraleitenden Materials, ein von außen angelegtes Magnetfeld durch induzierte Ströme vollständig aus seinem Inneren zu verdrängen. Legt man etwa ein Supraleiter-Plättchen auf einen Magneten und kühlt es ab, so beginnt das Plättchen unterhalb der »Sprungtemperatur« zu schweben – eine gern gezeigte, sehr eindrückliche Demonstration des Phänomens.

Eine Erklärung der Supraleitung in Metallen liefert die BCS-Theorie (nach ihren Entwicklern John Bardeen, Leon Cooper und Robert Schrieffer), welche die Ladungsträger in einem Supraleiter nicht als einzelne Elektronen, sondern als sogenannte »Cooper-Paare« aus zwei Elektronen beschreibt, die einen gemeinsamen quantenmechanischen Zustand einnehmen. Das Pärchen, das sich nur unterhalb einer materialspezifischen sehr tiefen Temperatur findet, kann sich dann ganz ungehindert und kollisionsfrei durch das Metallgitter bewegen – der elektrische Widerstand wird null.

Extreme Kühlung notwendig

Metallische Supraleiter haben zwar keinen Widerstand, aber einen großen Haken: für weitreichende, kommerziell genutzte Anwendungen ist eine stetig notwendige Kühlung auf wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273,15 °C) kaum realisierbar. Magnesiumdiborid hat mit -234 °C die höchste Sprungtemperatur unter den metallischen Supraleitern – zumeist ist jedoch flüssiges Helium das einzig mögliche Kühlmittel. Immerhin: Als Werkstoff sind Metalle leicht formbar, supraleitende Drähte und Spulen zur Erzeugung sehr starker Magnetfelder werden schon heute beispielsweise in der Magnetresonanztherapie, in Teilchenbeschleunigern oder Testanlagen zur Kernfusion eingesetzt.

Metalle sind aber nicht die einzigen Materialien, die supraleitend werden können: Zahlreiche Hydridverbindungen scheinen schon bei »moderaten« Temperaturen, dafür aber extrem hohen Drücken, zum Supraleiter zu werden. Schwefelwasserstoff etwa hat eine Sprungtemperatur von -70 °C (bei hohen Drücken ab 100 GPa), Lanthanhydrid zeigt einigen Arbeiten zufolge schon bei -23 °C supraleitende Eigenschaften.

Und im Jahr 1986 entdeckten Johannes Bednorz und Karl Müller eine Klasse von keramischen Supraleitern, ebenfalls mit hohen Sprungtemperaturen von über -250 °C . Für einige dieser auch als »Hochtemperatursupraleiter« bekannten Materialien kann so etwa eine kostengünstigere Kühlung mit Stickstoff (Siedetemperatur -196 °C ) genutzt werden. Doch wie die Haushaltskeramik ist auch die supraleitende ausgesprochen spröde und lässt sich nicht ohne größere Umwege zu Drähten verarbeiten. Der Einsatz eines keramischen Supraleiters (im Innern von zu Bändern ausgewalzten Silberröhren) wird seit 2014 in der Stadt Essen als Pilotprojekt getestet: Hierbei schlängelt sich ein rund ein Kilometer langes, unterirdisch verlegtes Kabel, stetig gekühlt durch Stickstoff, bis in die Fußgängerzone und ersetzt eine sonst übliche 110-kV-Erdleitung. Klappen tut es, nur die physikalischen Grundlagen der Stromleitung in keramischen Supraleitern sind – im Gegensatz zur BCS-Theorie für Metalle – bis heute noch nicht vollständig verstanden.

Und nun also LK-99, eine grauschwarze Verbindung aus Blei, Kupfer, Sauerstoff und Phosphor, die verhältnismäßig einfach herzustellen ist. Das Material, das nach seinen Entdeckern Sukbae Lee und Ji-Hoon Kim, die es erstmals im Jahr 1999 synthetisierten, benannt ist, soll den Angaben der Physiker nach weder tiefste Temperaturen noch enorme Drücke brauchen, um supraleitend zu werden: Bis rund 100 °C und normalem Umgebungsdruck soll LK-99 demnach Eigenschaften eines Supraleiters zeigen. Ein Video zu den Arbeiten zeigt, wie ein Plättchen aus LK-99 über einem Magneten schwebt – jedoch Supraleiter-untypisch ein bisschen »unsicher«. Das Schweben ist auch noch kein alleiniges Kriterium für einen Supraleiter, da auch ein normaler diamagnetischer Stoff prinzipiell das Schwebeverhalten für eine begrenzte Zeit zeigen kann (im Jahr 2015 ließ ein britisch-niederländisches Team etwa einen Frosch, Grashüpfer und ein Sträußchen Blumen schweben). Und der eindeutige Hinweis auf das Vorliegen eines Supraleiters in Form des Meißner-Ochsenfeld-Effekts, des vollständigen Verdrängens des Magnetfeldes aus dem Probeninneren, konnte für LK-99 bisher nicht erbracht werden.

Zweistufiger Sprung

Bleibt also noch der Sprung. Als Sprungtemperatur von LK-99 wurden bemerkenswerte 105 °C ermittelt – darunter sollte der Wert des elektrischen Widerstandes auf »null« beziehungsweise einen nicht mehr messbaren Wert abfallen. Hier zeigte das Material jedoch ein von den Forschenden auch dokumentiertes abweichendes Verhalten: Der elektrische Widerstand sank zwar deutlich ab – verschwand jedoch nicht vollständig. Bei einer weiteren Temperaturabnahme im Bereich von 90 bis 60 °C nahm der Widerstand anschließend weiter ab. Möglich ist, dass LK-99 so einfach einen »normalen« Übergang von einem Nichtleiter zu einem Leiter zeigt, ohne dass supraleitende Eigenschaften vorhanden sind.

Seit der ersten vorläufigen Veröffentlichung der Ergebnisse im Juli 2023 versuchen Forschergruppen weltweit, herauszufinden, ob LK-99 wirklich »supra-« oder doch nur »leitend« ist.

Erste Anhaltspunkte gab es durch das wacklige Schwebeverhalten. Forscher konnten das beobachtete Verhalten auch durch andere, ferromagnetische Materialien nachbilden, die durch die herrschenden Magnetfelder »angehoben« werden – jedoch nicht vollständig und vor allem stabil schweben.

Die dokumentierte Sprungtemperatur gab einen weiteren Hinweis: Durch den Produktionsprozess enthält LK-99 verschiedene Verunreinigungen, insbesondere Kupfersulfid. Von der Verbindung weiß man, dass sie – der Luft ausgesetzt – bei 104 °C einen Phasenübergang und dadurch einen sprunghaften Abfall des elektrischen Widerstandes zeigt. Ganz ähnlich wie LK-99. Hinzu kommt, dass leicht unterschiedliche Herstellungspfade uneinheitliche Mengen an Verunreinigungen haben, was eine eindeutige Beschreibung der Verbindung zusätzlich erschwert. Recht sicher scheint mittlerweile aber, dass das Kupfersulfid Hauptverursacher für das sprunghafte, aber wohl nicht supraleitende Verhalten von LK-99 ist.

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