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Fake Fall
In den USA werden Jahreszeiten nach Belieben inszeniert
Howdy aus Texas, liebe Leser*innen,
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
wussten Sie, dass im »Pumpkin Spice« kein Pumpkin drin ist? »Was ist überhaupt Pumpkin Spice«, wollen Sie wissen? Ein extrem populärer Lebensmittelzusatz, der jeden Herbst in den USA für Massenandrang sorgt, vor allem beim Spezialisten für mittelmäßigen Kaffee, Starbucks, der mit dem Kaffeegetränk »Pumpkin Spice Latte«, kurz PSL, mehr Frauen in Ekstase versetzt als David Beckham. Selbstverständlich gibt es den Kaffee auf Eis für die eiswürfelvernarrten US-Amerikaner; in Deutschland werden die limitierten Drinks seit ein paar Jahren ebenfalls verkauft. Im PSL sind Zimt, Muskatnuss, Nelke und vermutlich auch LSD, denn ein Schluck dieses zugegebenermaßen ziemlich angenehmen Getränkes sorgt dafür, dass sich sein Trinker der Illusion hingibt, draußen sei es kalt und Zeit für die Festtage. Das mag im arschkalten Deutschland ja funktionieren, aber in vielen Teilen der USA ist es noch arschheiß. In Texas sind gerade 40 Grad Celsius und trotzdem geht es Mitte August los mit den Herbstvorbereitungen und einem Phänomen, das ich »Fake Fall« – künstlichen Herbst – nenne.
Inszeniert wird der Fake-Herbst mit PSL-Kerzen und Plastikkürbissen drinnen und echten Kürbissen vor der Haustür. Die Mode wird dunkler, wenn auch weiterhin spärlich, die immer neu aussehenden Stiefel kommen aus dem Karton (Es stellt sich raus: Wer keine Unwetter und gestreuten Straßen kennt und meist Auto fährt, kann seine Stiefel ewig tragen! Und Sie dachten, die Amis seien nicht nachhaltig!). Auch nutzlose synthetische Schals werden drüber geworfen und herbstliche Fotoshootings arrangiert. Familien schwitzen sich dann langärmelig vor einer von der Sonne ausgedörrten Wiese ab, aber ein barfüßiges Kind auf dem Foto verrät immer die wahre Temperatur.
September ist Herbst-Performance, Oktober ist Halloween. Riesige batteriebetriebene Monsterfiguren, die manch Kleinkind fürs Leben traumatisieren, schmücken Geschäfte; man rackert sich an der Gruselaußendeko ab, schließlich gibt’s in den meisten Nachbarschaften Dekorationswettbewerbe. Wenn man Kinder, Haustiere oder auch nur einen Job hat … ach was, wenn man in den USA auch nur atmet, so feiert man Halloween mehrmals im Jahr – mit den Nachbarn, den Kollegen, dem Kindergarten, in der Lieblingsboutique, beim Pneumologen. Das erste Halloween in den USA konnte ich noch mit unseren Karnevalskostümen überbrücken, nun sind auch wir, der Laune der Tochter folgend, den halben Oktober über in Disney-Familienkostüme gehüllt.
Was nach dem 31. Oktober geschieht, spaltet die Nation. Entfernt man Halloween und macht weiter Herbst? Oder fängt man an, bei 20 Grad Weihnachten zu inszenieren? Ich gehöre zur ersten Fraktion und mache Herbst bis zum Erntedankfest. Andere beginnen am 1. November mit dem Weihnachtswahnsinn (Außenbeleuchtung, Geschenkstrümpfe, Lebkuchenhäuser, Psychosen, Rentiere). Wer am 1. Dezember noch immer nicht Weihnachten aufgebaut hat, bei dem ist die Integration hoffnungslos gescheitert.
Einziges Problemchen: Der wahre, also meteorologische Herbst setzt in Texas erst Mitte November ein, sprich drei Monate später als im Fake-Kalender. Dann ist es endlich angenehm kühl, die Blätter ändern ihre Farben. Aber die Kürbisse sind längst verrottet, der PSL dem »Peppermint Mocha« gewichen. Die Amis haben’s eilig, sie moven on. Januar und Februar in den US-Südstaaten sind die kältesten Monate, vereinzelt gibt es gar Schnee. Dies hält die Texaner aber nicht davon ab, schon den Frühling zu inszenieren. Ich stand mal mit einer Bekannten in der Schlange eines Cafés, zitternd in meiner Jacke, bei sieben Grad. Sie trug ein Sommerkleid zu nackten Beinen. Sie sei »done«, also durch mit Winter, sagte sie achselzuckend. In Norddeutschland sagt man, es gäbe kein falsches Wetter, nur falsche Kleidung. In Fernwest ist man mit dem Wetter und der Kleidung einfach dann done, wann man will.
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