- Politik
- 50 Jahre Putsch in Chile
Handlanger Pinochets in der BRD
Deutsche Politiker haben kräftig zur Stabilisierung der Militärdiktatur beigetragen. Viele Fragen sind nach wie vor offen
Bereits am 12. Juli 1973 schrieb das Berliner Komitee »Solidarität mit Chile« über die Vorbereitung eines Staatsstreichs in Chile. Der gescheiterte Putschversuch vom 29. Juni in der Hauptstadt Santiago habe gezeigt, dass große Teile der Rechten »vor keinem Mittel« mehr zurückschreckten, »die ihre Interessen immer ernsthafter bedrohende« Regierung des Linksbündnisses der Unidad Popular »zu beseitigen«. So hieß es in der zweiten Ausgabe der »Chile-Nachrichten«, die im Zentrum der aufkeimenden westdeutschen Chile-Solidaritätsbewegung standen und 2023 als »Lateinamerika-Nachrichten« ihr 50-jähriges Jubiläum feiern. Und weiter: »Inzwischen mehren sich die Nachrichten über paramilitärische Verbände und Waffenlager der Faschisten im Süden Chiles – unter anderem in der deutschen Kolonie ›Dignidad‹.«
Tatsächlich wurde der Sturz Salvador Allendes in der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad mit vorbereitet, die eine Schlüsselrolle in den Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Chile spielte. Rechtsextreme paramilitärische Gruppierungen wie Patria y Libertad (Vaterland und Freiheit) versammelten sich in dieser 400 Kilometer südlich von Santiago gelegenen Siedlung zu Nahkampftrainings und Sprengstoffübungen, die von der Sektenführung organisiert wurden. »Dabei wurde der Umgang mit Waffen geübt, Anschläge und Straßenblockaden trainiert«, beschrieb Luis Henríquez Seguel, der ehemalige Vizedirektor der chilenischen Kriminalpolizei PDI, 2020 in einem Interview.
Als Augusto Pinochet am 11. September tatsächlich den Regierungspalast »La Moneda« bombardieren ließ, ging alles ganz schnell. Tausende Linke und Intellektuelle, Gewerkschafter*innen und Landarbeiter*innen wurden in kurzer Zeit verhaftet, gefoltert oder getötet.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
Die beiden deutschen Staaten reagierten unterschiedlich auf den Putsch. In der BRD drückte die SPD, gespalten in der Meinung über Allende, zunächst ihre Bestürzung aus. Dagegen hielten sich CDU/CSU mit Verurteilungen zurück und verharmlosten die Menschenrechtsverletzungen. Nur elf Tage nach dem Putsch zitierte der »Bayernkurier« den CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß: »Angesichts des Chaos, das in Chile geherrscht hat, erhält das Wort Ordnung für die Chilenen plötzlich wieder einen süßen Klang.« Der Putsch und die zivil-militärische Diktatur sind nur im Kontext der Blockauseinandersetzung des Kalten Krieges zu verstehen. Wie Strauß übernahmen viele Politiker*innen der CDU/CSU das Narrativ der Putschisten, demzufolge sie mit dem Staatsstreich eine kommunistische Diktatur verhindert hätten. Nach einem Besuch in Chile im Oktober 1973 bezeichnete der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für humanitäre Fragen, Bruno Heck (CDU), das Leben der politischen Gefangenen im Nationalstadion in Santiago als »bei sonnigem Wetter recht angenehm«. Im Nationalstadion wurden etwa 40 000 Menschen gefangengehalten, viele von ihnen gefoltert und ermordet. Die FDP verurteilte den Putsch zunächst, ihr Außenminister Walter Scheel nahm jedoch die zuvor abgebrochenen diplomatischen Beziehungen bald wieder auf.
Die DDR, die erst kurz zuvor von Chile als Staat anerkannt worden war, reagierte entschlossener. Sie brach die diplomatischen Beziehungen ab, verwandelte ihre Botschaft in Santiago in eine Handelsvertretung unter dem Schutz der finnischen Botschaft, in der eine »Restgruppe« verfolgte Oppositionelle unterstützte. Kurzzeitig sammelten sich dort etwa einhundert verfolgte Chilen*innen.
Die Botschaft der Bundesrepublik in Santiago und das Auswärtige Amt gewährten Schutzsuchenden zunächst nur sehr zögerliche Hilfen und unterzogen sie einem Sicherheitscheck durch BND und Verfassungsschutz. Wer als mögliche Bedrohung eingestuft wurde, durfte nicht in die BRD einreisen. »Wir werden uns hier doch keinen Haufen Tupamaros reinholen«, begründete der damalige Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) das Auswahlverfahren. Bis die brutal gefolterte Journalistin und Anführerin des MIR (Bewegung der revolutionären Linken), Gladys Díaz, Aufnahme in der BRD fand, dauerte es mehr als ein Jahr und brauchte viele Briefe eines West-Berliner Frauen-Komitees, das sich für die politischen gefangenen Frauen in Chile einsetzte.
Zumindest manchen deutschen Unternehmen kam der Putsch gelegen: Stand Allende für die Verstaatlichung ausländischer Konzerne in Chile, öffnete die Junta den Markt für internationale Konzerne. So verkündete etwa der deutsche Chemiekonzern Farbwerke Hoechst AG: »Chile wird in Zukunft ein für Hoechster Produkte zunehmend interessanter Markt sein.«
Tatsächlich erlebte die Handelsbilanz der BRD mit Chile nach dem Putsch einen erheblichen Aufschwung: Der Export von überwiegend Maschinen, Fahrzeugen und Elektronik nach Chile stieg um über 40 Prozent, der Import vor allem von Kupfer, anderen Rohstoffen und Agrarprodukten aus Chile um etwa 65 Prozent. Schon 1974 besuchte eine chilenische Handelsdelegation die BRD. Auch Jahre nach dem Putsch unterhielt man gute Beziehungen zur Junta und unterstützte die Intensivierung der wirtschaftlichen Beziehungen. Bald entwickelte sich die Bundesrepublik zum zweitwichtigsten Handelspartner Chiles. Vor allem nutzte die BRD ihre Möglichkeiten zur Einflussnahme nicht aus, wandte sich nicht gegen das Fortschreiben von internationalen Krediten und Umschuldungsverfahren. Die Junta konnte sich damit stabilisieren und ihren Kurs des neoliberalen Umbaus von Wirtschaft und Gesellschaft fortsetzen.
Finanziell und wirtschaftspolitisch zeigten vor allem CDU und CSU enge Verbindungen zur Junta. Der CDU-Politiker Heinrich Gewandt hatte bereits vor Allendes Regierungszeit die Christdemokraten in Chile unterstützt und galt ab 1973 als Verbindungsmann zwischen CDU/CSU, bundesdeutschen Unternehmern und der Militärjunta. Zusammen mit anderen Bundestagsabgeordneten, acht chilenischen Konsulen, Bundeswehroffizieren und Geschäftsleuten sammelte er den »Nürnberger Nachrichten« zufolge 40 000 DM, die – als Spende des gemeinnützigen Vereins Deutsch-Chilenischer Freundeskreis – direkt an die Junta übergeben wurden.
Eine herausragende Rolle spielte der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß, der sich bis an sein Lebensende für gute Beziehungen zur chilenischen Militärjunta einsetzte. Er reiste 1977 zur 125-Jahr-Feier der deutschen Einwanderung nach Chile und traf Pinochet. Es folgten Lieferungen von deutschen Lkw an das chilenische Heer. Nach Recherchen der chilenischen Investigativ-Journalistin Mónica González aus dem Jahr 1987 handelten Vertraute von Strauß 1978 mit Pinochet und Luftwaffenchef Fernando Matthei die unter dem Namen »Kormoran« bekannt gewordene Lieferung von Hubschraubern BO-105 der Firma Messerschmidt-Bölkow-Blohm (MBB) an die chilenische Luftwaffe aus. Dabei sollte MBB möglichst nicht in Erscheinung treten, das Geschäft wurde in den Kontext eines Projekts politischer Kooperation und Ausbildung von Anleitern gestellt. Erst zehn Jahre später bestätigte Strauß das Geschäft offiziell.
Politisch bedeutend waren auch die engen Verbindungen zu zwei Würzburger Professoren aus dem Umfeld von CDU/CSU und deutschen Unterstützern der Colonia Dignidad: Der Soziologe Lothar Bossle unterhielt direkten Kontakt zu Pinochet. Der Jurist Dieter Blumenwitz wirkte an der Ausarbeitung der chilenischen Verfassung von 1980 mit, in der das Regime das neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell festschrieb.
Die Colonia Dignidad, zu der Franz Josef Strauß, seine Parteifreunde der CSU und vor allem auch die deutsche Botschaft in Santiago enge Verbindungen unterhielten, hatte strategische Bedeutung für die Diktatur. Sie war Teil des chilenischen Repressionsapparats. Angehörige der deutschen Siedlung installierten Funktechnik in Haftzentren des Geheimdienstes Dirección de Inteligencia Nacional (DINA). Die Führung der Siedlung legte ein Geheimarchiv mit rund 45 000 Karteikarten an, das 2005 beschlagnahmt wurde und in dem sich Informationen über Verhöre von Gefangenen finden. Die DINA errichtete auf dem Siedlungsgelände nach dem Putsch ein Gefangenenlager, wo zahlreiche Oppositionelle gefoltert und vermutlich rund einhundert ermordet wurden. Ihre Leichen wurden in Gruben verscharrt, Jahre später wieder ausgegraben und verbrannt, wie Aussagen von Siedlungsbewohner*innen belegen.
Nach Berichten über Folterungen besuchte 1978 eine Delegation von etwa 35 Mitgliedern der CSU und der ihr nahestehenden-Hanns Seidel-Stiftung die Siedlung. Dieter Huber, der Auslandsreferent von Strauß, erklärte danach, sie seien freundlich empfangen worden und hätten »ohne Hindernisse irgendwelcher Art« alles ansehen können. »An keiner Stelle haben wir die Folterkammern gefunden, von denen man so viel geredet hat.«
Eine entscheidende Rolle spielte der deutsche Waffenhändler und Informant des Bundesnachrichtendienstes (BND) Gerhard Mertins (Deckname »Uranus«). Der frühere SS-Offizier, der nach 1945 Kontakte zu neonazistischen Gruppen unterhielt, handelte über seine Firma Merex AG mit ausgesonderten Waffen der Bundeswehr und lieferte im Wissen des BND auch Rüstungsmaterial in Spannungsgebiete. Das beschreibt Jan Stehle vom Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika in seinem Buch »Der Fall Colonia Dignidad«. »Nach Aussagen von Gerhard Mertins beauftragte der BND ihn bereits 1972 damit, Kontakt zur Colonia Dignidad aufzunehmen und Informationen über die Siedlung einzuholen«, so Stehle. Mertins, der sich bis 1989 mehrmals in der deutschen Kolonie aufhielt, beschaffte Waffen für die Siedlung und soll durch deren Vermittlung auch Waffen an das chilenische Heer verkauft haben.
Die deutsche Justiz hat trotz jahrelanger strafrechtlicher Ermittlungsverfahren in keinem Fall Anklage wegen Verbrechen der Colonia Dignidad erhoben, hierzulande herrscht faktische Straflosigkeit. Da Deutschland deutsche Staatsbürger nicht an Chile ausliefert, finden Führungsangehörige der Siedlung hier einen sicheren Hafen. So lebt der ehemalige Krankenhausleiter Hartmut Hopp, der gute Verbindungen zum Geheimdienst DINA unterhielt, seit 2011 unbehelligt in Krefeld.
»Im Interesse einer umfangreichen Aufklärung und um zu beurteilen, wie tief die BRD wirklich in die chilenische Diktatur verstrickt war«, sagt Stehle, »müssen alle bei Geheimdiensten, insbesondere beim BND, unter Verschluss gehaltenen Dokumente und die Crypto-Leaks-Details offengelegt und ausgewertet werden.« Wie 2020 durch Recherchen von Frontal21 und »Washington Post« bekannt wurde, hatte der Schweizer Konzern Crypto AG jahrzehntelang Technologie zum Verschlüsseln geheimer Nachrichten an Regierungen in aller Welt verkauft. BND und CIA hatten die Firma allerdings heimlich gekauft und die Technik so präpariert, dass sie die verschlüsselte Kommunikation mitlesen konnten. Sie dürften bereits vor dem chilenischen Putsch bestens über diese Pläne informiert gewesen sein, ohne dagegen vorzugehen oder Allende zu warnen. Angesichts des Crypto-Leaks-Skandals sei möglicherweise eine Neubewertung der Geschichte nötig, so Stehle. »Es ist wichtig aufzuklären, was der BND vermutlich in Echtzeit auch über die systematischen Menschenrechtsverletzungen beispielsweise im Rahmen des Plan Condor (länderübergreifende Zusammenarbeit der Repressionsapparate der Diktaturen in Chile, Argentinien, Uruguay, Paraguay, Bolivien, Brasilien; Anm. d. Red.) mitlesen konnte, worüber die Geheimdienste der lateinamerikanischen Diktaturen miteinander kommuniziert haben.«
Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.
Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.
Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.
Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.