Aufnahmelager für Geflüchtete: Wachen wir auf!

Die Proteste auf Lampedusa gegen die Politik an der EU-Außengrenze halten an

  • Merle Dammhayn, Lampedusa
  • Lesedauer: 5 Min.

Giacomo Sferlazzo schnappt sich hastig das Mikrofon, bevor sich die Menge verstreut: »Und jeden Morgen, beim Zähneputzen, erinnert euch daran: Die (EU-Politiker*innen) wollen hier noch immer ein Camp errichten!« Der 43-Jährige erntet dafür Applaus. Erschöpft von den vergangenen Tagen schließt er die vormittägliche Kundgebung auf der Piazza della Libertà (Platz der Freiheit). Der Ort vor dem Rathaus in Lampedusa bildet seit knapp einer Woche das Zentrum einer Protestbewegung, die sich kurzerhand um eine Information gebildet hatte, die am Freitag zufällig – bei einem mitgehörten Telefonat – aufgeschnappt wurde: Die Armee befindet sich, ausgestattet mit allerlei Baumaschinerie, auf dem Weg nach Lampedusa, um eine Zeltanlage mit einer Beherbergungskapazität von 3000 Plätzen zu errichten.

Die zivile Mobilisierung begann in kleinem Kreise, spätnachts, bei Flutlicht, in einem stillgelegten Steinbruch. »Sie (die ital. Regierung) haben uns übergangen«, gestand der Vizebürgermeister Attilio Lucia von der rechten Lega den etwa 30 Anwesenden. »Sie (die italienische Armee) kommen morgen Abend mit der Fähre«, fügte er gesenkten Blickes hinzu. Der Notstand war just am Vortag ausgerufen worden. Ein solcher Ausnahmezustand ermöglicht sowohl den Einsatz der Armee im Inland, als auch die Bindung diverser Instanzen an Regierungsanweisungen. Auf Lampedusa ist dies keine Neuigkeit, die Insel befindet sich formal seit 2002 in einem Jahr für Jahr erneuerten Notstand – ein dienliches Instrument zur Verwaltung eines strategisch wichtigen Standorts.

»Wir sind müde!«, brüllte Lucia wenige Stunden später in die Fernsehkameras. Binnen kürzester Zeit hatten sich Hunderte Inselbewohnende auf der Piazza versammelt. Die Lampedusani sind vertraut mit der Migrations- und Asylpolitik der EU und den damit verbundenen alltäglichen Tragödien. Für sie bedarf es keiner Erklärung, dass es sich bei dem Vorhaben einer Zeltstadt nicht um eine temporäre Hilfseinrichtung für die Tausenden jüngst Angekommenen handelt. Vielmehr würde ein solches Lager als Vorläuferstruktur für ein Abschiebezentrum fungieren. Bis zu 18 Monate können dort diejenigen Geflüchteten versammelt werden, mit deren Herkunftsstaaten die EU entweder ein Abkommen abgeschlossen hat oder deren Herkunftsland von der EU als sicher deklariert wird – bevor, ohne Chance auf einen Asylantrag, eine Abschiebung veranlasst werden kann.

Hunderte Lampedusani besetzten am Samstag den Kai und blockierten die abendliche Versorgungsfähre, mit der die Armee an Land hätte gehen sollen, um das Zeltlager zu errichten. Am Dienstag sickerten weitere Informationen durch: Das Militär versuche, die Zelte in der laufenden Woche mit einem Flugzeug auf die Insel zu verfrachten. Die Anspannung innerhalb der Bevölkerung hält an.

»Wir werden nicht erlauben, dass Lampedusa zu einem Gefängnis wird«, bekräftigt Sferlazzo gegenüber »nd« in einem Gespräch. Er benennt damit einen der wenigen gemeinsamen Nenner der Proteste, zu deren Protagonist er geworden ist. Die Bewegung eint verschiedenste politische Positionen. Da gibt es die Gruppe Pelagie Mediterranee (PM), in der auch der Aktivist, Künstler und Puppenspieler Sferlazzo politisch organisiert ist. »Wir fordern, dass der programmatischen Destabilisierung der afrikanischen Länder ein Ende bereitet wird«, so der Aktivist Fabrizio Fasulo (39). Er sieht ein Abschiebezentrum als einen weiteren, ruchlosen Mechanismus in der EU-Abschottungsstrategie. »Wir schließen hier niemanden weg und wir erlauben auch nicht, dass sich irgendwelche Kräfte auf Lampedusa installieren, um das System um diese Ungerechtigkeit auszubauen und Profit daraus zu schlagen«, ergänzt Sferlazzo. »Lampedusa ist seit der Antike Ort des Austausches, Teil des Mediterraneums. Wir tragen diese Verantwortung.« Dies demonstrierten etliche Lampedusani, als sie in der vergangenen Woche das Versagen der institutionellen Strukturen in Windeseile auffingen, indem sie sie mit Essen und Kleidung versorgten sowie Zugang zu Schlafplätzen und sanitären Einrichtungen verschafften.

Neben der PM gibt es eine weitere Gruppe, deren »no camp«-Forderung sich durch die Befürchtung konkretisiert, das ›Image‹ Lampedusas könnte durch eine weitere Militarisierung Schaden von sich tragen. Tatsächlich arbeiten rund 85 Prozent der Inselbewohner*innen saisonal im Tourismussektor. Daneben stehen allerdings auch diejenigen Unternehmer*innen, die ihren Profit ins Zentrum ihrer politischen ›Agitation‹ stellen. Häufig lässt sich vernehmen, diese Fraktion habe vergessen, wo man herkäme; dass all ihre Eltern Fischer*innen gewesen seien, die hart und ehrlich gearbeitet und nach dem Gesetz der See gelebt hätten. Das verpflichte, allen sich in Not Befindlichen Hilfe zu leisten. Heute dächten die nur noch ans Geld. Das Thema grimmt viele, doch niemand wagt, persönlich zitiert zu werden. Der Diskurs ist fragil, kann leicht eskalieren, zu Fehden führen.

Einen weiteren gemeinsam Nenner der Bewegung stellt die Forderung nach der kurzfristigen Einrichtung vom EU-Asylrecht unabhängiger humanitärer Korridore dar. Mittels derer würde auf die Schnelle ermöglicht, sicher ans EU-Festland zu reisen. Denn die Lage verspricht keine Entschärfung.

Felice Rosa (33) hat die vergangenen Monate in Tunesien verbracht und etwa die Zarzis 18/18-Aufstände begleitet. »Die Situation in Tunesien hat sich seit Februar brutal verschärft«, beobachtet er. »Die von der EU-geführte Strategie der Auslagerung der Grenzen in den Niger – durch Camps in Transitländern – zielt darauf ab, die Reiserouten zu kriminalisieren. Dadurch werden sie gefährlicher.« Das notorische Rechtsaußen-Argument keine Anreize zu schaffen, gehe nicht auf. Viel eher, so Rosa, treibe diese forcierte Rechtlosigkeit entlang der Reiseroute Flüchtende zunehmend in Ausbeutungsverhältnisse. Durch verstärkten Rassismus seien insbesondere Geflüchtete aus dem südlichen Afrika in extremer Gefahr.

In den vergangenen Tagen konnte man keine Geflüchteten mehr auf den Straßen Lampedusas antreffen, viele waren wegen des Besuchs von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen aufs Festland gebracht worden. Die Protestbewegung hatte am Sonntag den Präsidialkonvoi blockiert und eingekesselt. Meloni entstieg dem verdunkelten Wagen für eine kurze Unterhaltung mit Sferlazzo. Der im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz und Ursula von der Leyens »Zehn-Punkte-Plan für Lampedusa« mussten die Protestierenden dann jedoch über ein durch ein Mikrofon verstärktes Telefon folgen. Zutritt zu dem Versammlungsraum war ihnen nicht gestattet. Auf der Piazza herrscht Stille. Irgendwer sagt: »Nichts haben die gesagt, gar nichts!«

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