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Haftanstalt in Berlin-Tegel: 125 Jahre Knast
Die Haftanstalt in Berlin-Tegel hat Geburtstag – heute würde man das Gefängnis anders bauen
Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.» Mit diesem Satz beginnt Alfred Döblins Großstadtroman «Berlin Alexanderplatz». Wie für den Protagonisten Franz Biberkopf in den 1920er Jahren bilden die Mauern in Tegel auch heute noch die Grenze zwischen Freiheit und Haft. Für 800 Menschen hat man hier heute Platz. Die ersten Insassen überhaupt bezogen am 1. Oktober 1898 ihre Zellen im damals noch Königlichen Strafgefängnis. Seit nun mittlerweile 125 Jahren sitzen hinter den roten Backsteinen Menschen ein.
Es wird nicht der letzte Geburtstag der Haftanstalt sein. Nach und nach wurde das mittlerweile 18 Fußballfelder große Gelände um neue Teilanstalten erweitert. 2014 eröffnete die Teilanstalt VII. 2025 soll nun mit dem Neubau der Haftanstalt I begonnen werden. Erstes Geld für den Anlauf der Planungen im kommenden Jahr ist im Landeshaushalt vorgesehen. «Es ist der erste große Schritt hin zu einem modernen Strafvollzug in der Hauptstadt», sagte zuletzt Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos). Mit Gesamtbaukosten in Höhe von 35 Millionen Euro wird gerechnet.
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Als im Kaiserreich zum ersten Mal ein Gefängnis in Tegel gebaut wurde, listete das Zentralblatt der Bauverwaltung, eine damals herausgegebene Fachzeitschrift, alle Maße der ersten drei Teilanstalten genau auf. 15 Kubikmeter groß seien die Hafträume, schrieb das Blatt im Jahr 1900. «Die Stockwerkhöhe in den Gefängnissen beträgt 2,95 Meter, in den Verwaltungsräumen 3,60 Meter von Oberkante bis Oberkante Fußboden.» Für die Gefangenen ergibt das rund fünf Quadratmeter kleine Hafträume.
2009 entschied der Verfassungsgerichtshof Berlins nach der Klage eines ehemaligen Häftlings, dass die Unterbringung in 5,25 Quadratmeter großen Zellen der Teilanstalt I ohne abgetrennte Toilette gegen die Menschenwürde verstößt. Die Zellen wurden nicht mehr belegt und die Teilanstalt 2018 schließlich abgerissen. Die Teilanstalt III steht leer, weil man befürchtet, dass ein Gericht für sie zum gleichen Urteil käme. Die historische Teilanstalt II wird zwar genutzt. Die Hafträume sind hier aber nicht viel größer. Sechs Quadratmeter große Zellen gehen gerichtlich allerdings als Mindestgröße durch. Dennoch fehlt es in Tegel allein baulich an vielem: an ausreichend Nasszellen zum Beispiel oder an Räumen für sozialtherapeutische Maßnahmen.
Der Bauzustand ist aber längst nur ein Teil der Sorgen der Tegeler Insassen. «Gefangene schieben Knast auf Arbeit», so eine Überschrift in der Gefangenenzeitung «Lichtblick» vom Mai. Es geht um die reduzierte Ausgabe von Brot, Käse und Wurst. Seit diesem Jahr erscheint der «Lichtblick» wieder, Deutschlands einzige unzensierte Gefangenenzeitung, die seit 1968 in Tegel produziert wird. In der ersten Ausgabe geht es auch um ein Video aus der JVA, das Mitte Februar für Aufsehen sorgte. Im Video prangern Häftlinge nicht nur an, zu wenig zu essen zu bekommen, sondern auch zu wenig auf ihre Entlassung vorbereitet zu werden und dass Inhaftierte mit Migrationshintergrund bei der Arbeitsplatzzuweisung diskriminiert werden würden.
«Tegel ist die schlimmste Haftanstalt Berlins. Sie ist menschenunwürdig. Gefangene werden wie Vieh gehalten», sagt Manuel Matzke, Sprecher der Gefangenengewerkschaft GG/BO zu «nd». Für manche sind die Zustände in den Justizvollzugsanstalten wie Tegel nicht aushaltbar. Sieben Suizide hat es dieses Jahr bereits berlinweit gegeben, auch in der JVA Tegel nahm sich erst Ende August ein Insasse das Leben. Hinzu kommen die erfassten Suizidversuche und eine wahrscheinlich höhere Dunkelziffer, sagt Matzke. «Statt sich für das Jubiläum zu feiern, sollte die JVA Tegel endlich etwas gegen die Suizide unternehmen.» Für Matzke stehen die Suizide auch in einem Zusammenhang mit den baulichen Bedingungen. Matzke sagt aber auch: «Wir hören aus Tegel, dass der Umgangston des Personals seit dem Regierungswechsel rauer geworden ist.»
Woanders sieht es längst menschenwürdiger aus als in Tegel. 2009 schob nicht nur der Verfassungsgerichtshof der Unterbringung in der Teilanstalt I einen Riegel vor. Im Sommer 2009 hatte das Land Berlin auch mit dem Bau der neuen JVA Heidering im brandenburgischen Großbeeren begonnen, die vor zehn Jahren öffnete. Heidering zeigt im Kontrast zu Tegel, wie sich die Gefängnisarchitektur in knapp über 100 Jahren gewandelt hat. Zehn Quadratmeter große Zellen, eine von einem Zaun statt einer Mauer umgrenzte Außenanlage, Fenster, die sich nach innen öffnen lassen, und eine Magistrale mit Glasfront, die alle Teile der Anlage verbindet. Das entwarf der österreichische Architekt Josef Hosensinn.
Heidering ist ein Bau, der nicht alles dem effizienten Überwachen unterordnet. Einer, der auch baulich Resozialisierung möglich macht. Gruppenräume für Stuhlkreise oder Begegnungsorte: Daran dachte man im Kaiserreich nicht. Straffällige sollten weggesperrt werden, alles am Gefängnis musste abschrecken. Die Einsicht, dass dieses Konzept nicht unbedingt erfolgversprechend ist, kam erst später. Am wenigsten kostet ein Straffälliger die Gesellschaft, wenn er nicht rückfällig wird. Ein Ziel, das mit der günstigen Verwahrung nicht erreicht wird.
Versuche, durch architektonische Entscheidungen eine Besserung von Straffälligen zu erreichen, gibt es schon lange. Bis heute am berühmtesten ist das Panoptikum, die Idee des englischen Philosophen Jeremy Bentham aus dem 18. Jahrhundert: Ein runder Gefängnisbau mit im Kreis angeordneten, einsehbaren Zellen um einen zentralen Wachturm. Die Insassen sollten jederzeit beobachtet werden können, aber nicht sehen, ob sie es auch wirklich werden, was – so Benthams Vision – zur mehr oder weniger freiwilligen Selbstkontrolle führen würde.
Ein Panoptikum streng nach Bentham wurde zwar nicht gebaut. Doch die Vorstellung, von einem zentralen Punkt alles im Blick zu haben, hat Schule gemacht. Vorbild ist hier das 1840 gebaute Londoner Gefängnis Pentonville, bei dem es ein Hauptgebäude und von diesem aus strahlenförmig angeordnete Trakte gibt. Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. soll den Bau der Haftanstalt in Berlin-Moabit nach dem Vorbild Pentonvilles in Auftrag gegeben haben. Auch die ersten Haftanstalten in Tegel sind solche Strahlenbauten.
Doch auch über die Innenarchitektur von Gefängnissen wurden viele Theorien aufgestellt. Baker-Miller Pink heißt ein Farbton, der angeblich zu Beruhigung und Entspannung führen soll und erstmals Ende der 1970er Jahre in einer US-amerikanischen Haftanstalt an die Zellenwand gestrichen wurde. Auch in Bremen experimentierte eine JVA vor zehn Jahren noch einmal mit dem Pinkton. Inzwischen wurde aber wieder renoviert – der gewünschte Effekt blieb aus.
Doch es gibt auch plausiblere Gestaltungen. Die Gefängnisarchitektin Andrea Seelich betonte beispielsweise immer wieder, dass quadratische Zellen besser geeignet seien als nur rechteckige. Sie würden beruhigen, ermöglichen mehr Optionen bei der Einrichtung, während rechteckige Zellen beispielsweise nur einen bestimmten Platz für den Fernseher ließen.
Was sich für den Neubau der Teilanstalt I in Tegel ausgedacht wird, muss sich noch zeigen. Klar ist aber: So wie 1898 wird der Neubau nicht mehr aussehen. Falls 2025 der erste Spatenstich erfolgen sollte, kommt auch ein Haken an ein langes Kapitel. Schon unter CDU-Justizsenator Thomas Heilmann wurde ein Neubau geplant. Unter der ersten rot-grün-roten Landesregierung und Justizsenator Dirk Behrendt (Grüne) passierte dann erst einmal nichts außer dem Abriss. Die 2021 eingesetzte Justizsenatorin Lena Kreck (Linke) wollte die Teilanstalt I zwar neu bauen lassen. Dann kam aber die Berliner Wiederholungswahl vom Februar 2023.
«Die Architektur zwingt zu einem restriktiveren Strafvollzug», sagte auch Lena Kreck vergangenes Jahr über Tegel. Ein Gefängnisbau schließlich konserviert in Stein und Stahl Vorstellungen des Strafvollzuges, selbst wenn sich diese längst gewandelt haben. An den Backsteingebäuden in Tegel lässt sich ein Umgang mit Straffälligen ablesen, der mittlerweile längst überholt ist.
Ja, Haftanstalten würden heute menschenwürdiger gemacht werden. Einen positiven Gefängnisbau gibt es für ihn aber nicht, sagt Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft. «Grundsätzlich gehört das System Haft abgeschafft.»
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