Israel: Netanjahus Ablenkungsmanöver

Israels Premier versucht, die Aufmerksamkeit von den Protesten gegen die Regierung umzuleiten

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.

Am Tag vor Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, waren sie wieder da, mehr als 100 000 Menschen auf den Straßen und Plätzen Israels. Auch 38 Wochen nach ihrem Beginn, nur 24 Stunden vor Beginn des Festtags ebben die Proteste gegen den heftig umstrittenen Justizumbau der rechtsextremen Regierung um Premierminister Benjamin Netanjahu nicht ab.

Der war in der vergangenen Woche anlässlich der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York, bekam dort endlich ein Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Es war ihre erste Zusammenkunft überhaupt, seit Netanjahu Ende vergangenen Jahres nach kurzer Unterbrechung zuerst eine Koalition mit einem rechtsradikalen Wahlbündnis einging und dann ins Amt des Regierungschefs zurückkehrte, um alsbald einen Plan für einen sehr weitreichenden Umbau des Justizsystems vorzulegen, der als »Reform« verkauft wird: Künftig soll die Regierungsmehrheit ein viel größeres Mitspracherecht bei der Besetzung von Posten in der Justiz haben; außerdem soll das Recht der Gerichte abgeschafft werden, Entscheidungen von gewählten Amtsträger*innen für »unangemessen« zu erklären.

Dies ist auch der Teil des Gesetzesvorhabens, der die Menschen derzeit auf die Straßen treibt: Im Juli hatte das Parlament mit der Mehrheit der Regierungsfraktionen die Abschaffung der Angemessenheitsklausel beschlossen. Diese Regel beruhte nicht auf einem geschriebenen Gesetz, sondern auf der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes.

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Netanjahu indes versucht nun, die Aufmerksamkeit von den Protesten und vom Justizumbau auf andere Dinge zu lenken. In New York war er bemüht, den Fokus auf die Friedensverhandlungen mit Saudi-Arabien zu lenken. Sollte es tatsächlich zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen kommen, wäre das ein Erfolg, den er sich auf die Fahnen schreiben könnte. Ob das allerdings ausreichen würde, um sein ramponiertes Image aufzubessern, ist fraglich. Dazu muss man wissen, dass Netanjahus Likud es nie über die 30-Prozent-Marke geschafft hat; bei der letzten Wahl im November 2022 holte man nur 23,41 Prozent. Insgesamt erhielten die Regierungsparteien etwa 48 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen. Netanjahus USA-Reise war ebenfalls von Protesten überschattet: Auf Schritt und Tritt folgten ihm Anhänger*innen der Protestbewegung.

Gleichzeitig hat der Oberste Gerichtshof seine Beratungen über die Abschaffung der Angemessenheitsklausel begonnen. Zum ersten Mal in der Geschichte des Staates Israel befassen sich alle 15 Richter*innen gemeinsam mit dem Thema. Bis zu einem Urteil könnte es Monate dauern.

Demokratie. Diktatur. Das sind Worte, die in dieser Zeit sehr oft benutzt werden. Die Gegner*innen der »Reform« sehen in ihr einen großen Schritt in Richtung Diktatur. Die Befürworter*innen sind indes der Ansicht, die Demokratie würde dadurch gestärkt; sie argumentieren: Über Jahre wähle man rechts und könne dann rechte Politik wie den Siedlungsbau nicht voll umsetzen, weil die Gerichte dazwischengehen. Dabei war die Angemessenheitsklausel jahrzehntelang von allen Regierungen akzeptiert, teils auch willkommen geheißen worden. Denn die Regel schuf ein Korrektiv, um Handlungen der Regierung abzumoderieren, was sowohl das rechte als auch das linke Spektrum immer wieder nutzte.

Doch der derzeitigen Regierung geht das alles zu weit, seit der Oberste Gerichtshof die Ernennung von Arje Deri, Vorsitzender der ultraorthodoxen Schas, zum Minister blockierte; Deri hatte sich erst Monate zuvor, am Ende strafrechtlicher Ermittlungen, unter anderem dazu verpflichtet, sein Parlamentsmandat abzugeben.

Sehr oft wird nun von Spaltung gesprochen. Auch das Wort »Bürgerkrieg« fällt ab und zu, denn der Aggressionslevel auf beiden Seiten steigt. Zunehmend kommt es am Rande von Demonstrationen zu Zwischenfällen, und Netanjahu heizt die Atmosphäre weiter an.

Kurz nachdem der Oberste Gerichtshof seine Anhörung begonnen hatte, wurde von Abgeordneten von Regierungsfraktionen die Forderung an Netanjahu gerichtet, er solle ein Urteil gegen die Reform einfach missachten; auch mindestens zwei Rabbiner aus dem rechten Umfeld unterstützten die Forderung.

Normalerweise haben Netanjahu und sein Team die Abgeordneten gut unter Kontrolle; selbst jene, die mit seinem Kurs überhaupt nicht einverstanden sind, äußern ihre Kritik nur hinter vorgehaltener Hand. Doch dieses Mal tat der Premier überhaupt nichts, im wahrsten Sinne des Wortes: Zuletzt umging er in einem Interview mit CNN die Antwort auf die Frage, ob er ein für ihn negatives Urteil akzeptieren würde.

Welche Folgen eine Weigerung hätte, ist allerdings schwer vorstellbar. Was würde passieren, wenn Netanjahu den Vorsitzenden der Schas-Partei, Deri, trotzdem ins Kabinett zurückholen würde? Ein Regierungschef hat in Israel nicht die Befugnis, die Anweisung zu geben, geltendes Recht zu missachten.

Gut denkbar also, dass es sich bei der Frage, ob er oder ob er nicht, einfach nur um eine theoretische handelt. Die aber trotzdem seinen Unterstützer*innen das Gefühl gibt, dass es eine einfache Lösung auf eine komplizierte Frage gibt.

Schon jetzt arbeitet man daran, mögliche Kritik aus dem Ausland so weit wie möglich abzublocken. So beschwerte sich Außenminister Eli Cohen darüber, dass der deutsche Botschafter Steffen Seibert bei der Anhörung vor dem Obersten Gerichtshof dabei gewesen sei – so, als habe es sich bei dem Verhandlungstermin um eine Protestkundgebung gehandelt.

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