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  • »Extremismus der Mitte«

Radikalisierte Mitte: Politische Camouflage

Der Klassenkampf von oben wird vom bürgerlichen Zentrum geführt. Ist das der »Extremismus der Mitte«?

  • Tobias Prüwer
  • Lesedauer: 7 Min.
Die ideologiefreie Position liegt in der Mitte? So stellt es sich etwa die FDP vor. Dass die »Mitte« selbst eine Ideologie darstellt, gerät dabei schnell aus dem Blick.
Die ideologiefreie Position liegt in der Mitte? So stellt es sich etwa die FDP vor. Dass die »Mitte« selbst eine Ideologie darstellt, gerät dabei schnell aus dem Blick.

»Wir sind die Freien Demokraten, die Mitte-Mitte-Partei in Deutschland.« Mit klarem politischen Koordinatensystem verlangte der damalige FDP-Fraktionsvorsitzende Marco Buschmann 2021 im Bundestag eine neue Sitzordnung: Der FDP solle auch räumlich die Zentrumsposition zwischen CDU und SPD zukommen, die sie inhaltlich besitze, so der Politiker. Diese geforderte, nie realisierte Umplatzierung sollte die Ideologieferne unterstreichen, welche die Partei unablässig von sich selbst behauptet und die ihr eigentlich gar nicht innewohnt. Anspruch und Wirklichkeit klaffen jedoch nicht aufgrund einer falschen Sitzordnung auseinander.

Vielmehr zeigt sich auch bei den Liberalen, dass eine Mitte als ideologisch neutraler Ort bloße Schimäre ist. Das beweist ebenfalls die Einstellungstendenz breiter Bevölkerungskreise nach hart rechts, welche die neue Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nachweist. Die Bestimmung einer Mitte als angeblicher Ort von Stabilität und Ruhe bereinigt alle Differenzen, macht eigentlich tabuisierte Dinge sagbar. So dient das Konstrukt Mitte allzu oft als Camouflage für Abwertung und Diskriminierung. Deshalb von einem »Extremismus der Mitte« zu sprechen, ist verlockend, allerdings nicht zielführend. Man sollte lieber ganz von der Mitte als Bezugspunkt lassen.

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Ressentimentgeladene Mitte

Glaubt man Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), stellt das Sortieren von Menschen nach ihrer Nützlichkeit eine Position gemäßigter Politik dar. In punkto Zuwanderung erklärte er jüngst in der »Rheinischen Post«: »Wir machen es denen zu schwer zu kommen, die wir als Arbeitskräfte brauchen. Und wir machen es denen zu leicht zu bleiben, die von unserem Sozialstaat profitieren wollen.« Der Thüringer FDP-Chef Thomas Kemmerich sekundierte und orakelte im Redaktionsnetzwerk Deutschland von verpflichtender Arbeit: »Wer Bürgergeld bezieht, muss etwas dafür tun. Es gibt aber auch Leute, die nutzen das System aus. Und dagegen müssen wir vorgehen.« Ähnlich äußerte sich CDU-Vize Carsten Linnemann. Hier wird einmal mehr der einwandernde »Sozialsystemtourist« an die Wand gemalt und vor heimischen Schmarotzern gewarnt, die es sich angeblich in der »Hängematte Grundsicherung« gemütlich machen.

Dass diese vermeintlich unideologischen Positionen einem Ressentiment entspringen – beispielsweise gehen ein Viertel der 3,9 Millionen Bürgergeld-Empfänger*innen als Aufstocker*innen sehr wohl einer Beschäftigung nach, besuchen andere Fortbildungsmaßnahmen oder pflegen Angehörige –, irritiert die Mitte-Ideologen von FDP und CDU nicht. Angesichts solcher und weiterer sozialchauvinistischer Schnittmengen ist es auch kein Wunder, dass beide Parteien kürzlich im Thüringer Parlament zusammen mit der AfD abstimmten.

Den in dieser Politik zum Ausdruck kommenden Rassismus und Klassismus weist die am 21. September veröffentlichte Mitte-Studie erneut als weit verbreitete demokratiegefährdende Einstellungen in der Bevölkerung nach. Sie sind aber nur ein Bestandteil grassierender gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Der Studie über »Die distanzierte Mitte« zufolge teilt mehr als ein Drittel (35 Prozent) der Befragten die Auffassung, »Langzeitarbeitslose würden der Gesellschaft nur zur Last fallen«. Bei 23 Prozent herrscht die Überzeugung, Empfänger*innen von Bürgergeld und Sozialhilfe seien faul. Mehr als ein Drittel (34 Prozent) unterstellt Geflüchteten »Sozialmissbrauch.« In der Studie sticht ausgerechnet die FDP heraus: Von ihrer Wählerschaft neigen 15 Prozent zu solchen Einstellungen, während es bei Anhängern von CDU/CSU nur 6 Prozent sind.

Magnetischer Heilsort

Der Hang zum Ressentiment mag auch dem naiven Freiheitskonzept geschuldet sein, das in der FDP kursiert und seit einiger Zeit insbesondere durch die Springer-Medien propagiert wird. Während üblicherweise Freiheit als Abgrenzung zur staatlichen Kontrolle verstanden wird, geht es den Liberalen um die Abgrenzung zu gesellschaftlichen Normen. Alles wird als Einschränkung persönlicher Freiheit empfunden, selbst die Bitte, nicht zu diskriminieren oder andere in Ruhe zu lassen. »Libertäre Autoritäre« nennen die Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey diese Menschen, die einem gefühlig aufgeladenen Freiheitsfetisch anhängen. Als autoritär und rechts verstehen sich viele davon aber nicht, ordnen sich im Gegenteil einer Mitte zu – so wie viele der für die »Mitte-Studie« Befragten sich selbst als Vertreter*innen einer neutralen politischen Haltung verstehen, eben als Mitte. Die Mitte ist magnetisch.

»Mitte«, ob in Gestalt politischer Mitte, Mittelschicht oder Neue Mitte, berührt ein Gefühl. Eine belastbare politische Position drückt sie nicht aus. Sie ist im Parlamentarismus zufällig aus der Sitzordnung der französischen Nationalversammlung entstanden und verwandelte sich von pragmatischer Lösung zum imaginären Heilsort. Nirgends findet sich eine belastbare Beschreibung dessen, was eine gesellschaftliche Mitte an geteilten Grundüberzeugungen, Haltungen und Werturteilen zusammenhält.

Jedoch lassen sich mit der unterstellten gesellschaftlichen Mitte sehr gut bestimmte Normen legitimieren. Politiker maskieren mit dem Pochen auf die Mitte-Position ihre eigene ideologische Agenda, inszenieren Neutralität und stellen von dort aus ihre politischen Gegner*innen unter Ideologieverdacht. Gerade weil nebulös bleibt, was genau sie definiert, ist die Mitte so populär. Sie ist eine attraktive Leerstelle. In den Worten des 2022 verstorbenen Politologen Kurt Lenk: »Fragt man nach dem spezifischen Ort, den dieser Zuschreibungspunkt in der politischen Geometrie hat, erhält man nicht selten die Antwort: ›Das weiß man doch!‹ In Wirklichkeit jedoch ist das, was ›die Mitte‹ inhaltlich meint, auf der Landkarte des Politischen eine terra incognita, ein nahezu gänzlich weißer Fleck.«

Der Mitte-Bezug ist Augenwischerei: Weil man einer Partei der Mitte angehört, kann die eigene Position gar keine extrem rechte sein – so wie Hubert Aiwanger von den bayrischen Freien Wählern von sich sagte, nie Neonazi gewesen zu sein und vom Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) das Label »bürgerlich« attestiert bekam. Bürgerlich ist ein weiteres Tarnwort, das dieselbe normalisierende Funktion erfüllt. Auch der »gesunde Menschenverstand«, auf den Aiwanger immer wieder referiert und dem auch FDP-Vertreter*innen oft das Wort reden, fällt in diese Kategorie der Verschleierung.

Übergreifende Menschenfeindlichkeit

In dieser Hinsicht kommt die AfD einigen ganz gelegen: Solange sie nicht zu viele Stimmen holt, macht sie Dinge sagbar, die man sonst nicht so klar in der »Mitte« sagen darf. Angesichts solcher Ressentiments in Parteien mit Mitte-Bezug drängt sich die Rede von einem Extremismus der Mitte förmlich auf, nur hat dieser in der Hufeisenform des Extremismusmodells keinen Platz. Und die angenommen Ränder werden nur in ihrer Abweichung von einer angeblichen Mitte her bestimmt. Man dreht sich folglich im Kreis.

Tatsächlich gab es Versuche, diese Schwierigkeiten im Konzept eines »Extremismus der Mitte« einzufangen. Der Soziologe Seymour Martin Lipset stellte dieses in den 50er Jahren mitsamt der These vor, dass der Faschismus wesentlich von der Mittelschicht getragen wurde. Dieser Ansatz hat den Vorteil, dass er die – unterstellte – politische Mitte nicht aus der Analyse entlässt. Die Vermischung von Mittelschicht und politischer Mittelposition erzeugt aber ein merkwürdiges Bild, zumal sich zusätzlich das Problem stellt, klar eine Mittelschicht zu definieren. Das Konzept hält außerdem an der Vorstellung einer Mitte an sich fest, die es selbst nicht füllen kann. »Extremismus der Mitte« kann daher eher als ein Aufreger in der politischen Debatte dienen, um auf blinde Flecken hinzuweisen. Ein Mittel der Differenzierung ist er nicht.

Da ist der methodische Weg brauchbarer, den Einstellungsstudien wie die zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit verfolgen. Hinter dem sperrigen Begriff verbirgt sich ein einfaches Konzept: Wer Menschen aufgrund ihrer zugewiesenen Zugehörigkeit zu »schwachen« Gruppen – Wohnungslose, Nichtdeutsche, Juden, Behinderte etc. – abwertet, denkt oder agiert menschenfeindlich. Für diese Denkweise sind Einkommen, soziale Situation oder eigene politische Zuordnung unerheblich. Die Dinge werden klar benennbar, statt mit dem Hufeisen zu werfen und Nebelkerzen zu zünden. Das funktioniert auch, wenn man sich nicht, wie die Mitte-Studie, auf eine Zentrumsposition bezieht, die sie selbst nur postulieren, aber nicht definieren kann.

Für Teile der Wähler*innenschaft einer selbsterklärten Mitte-Partei stellt laut der aktuellen Studie selbst die Diktatur kein Tabu mehr dar. Dagegen braucht es Dissenz und lautstarke Kritik. Denn das Tarnmanöver kann verfangen. Zum Abschluss noch einmal der Politologe Kurt Lenk: »Gerade die Leerformelhaftigkeit der Berufung auf eine imaginäre Mitte verbürgt deren ideologisch-politische Funktion. Ist doch heutzutage fast ein jeder von einer gewissen ›Rand-Angst‹ getrieben und deshalb geneigt, sich in eine Mitte zu verorten, die Solidität und Normalität symbolisiert.«

Tobias Prüwer studierte Philosophie und Geschichte in Leipzig und Aberdeen. Er lebt als Journalist und freier Autor in Leipzig und ist unter anderem Mitverfasser des »Wörterbuchs des besorgten Bürgers«. Zuletzt erschien sein Buch »Kritik der Mitte« im Verlag Parodos.

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