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Nachwuchsfußball-Reform: Spielen, spielen, spielen!
Die neuen Spielformen im Kinderfußball sorgen für Kontroversen, doch die Profiklubs sind schon überzeugt
Hanno Balitsch, das hat er selbst oft betont, war kein filigraner Techniker, dem der Ball blind gehorcht. Trotzdem hat es der Bundesligaprofi (1. FC Köln, Bayer Leverkusen, FSV Mainz 05, Hannover 96, 1. FC Nürnberg) sogar zum Nationalspieler gebracht: Im Februar 2003 verschaffte ihm ein gewisser Rudi Völler gegen Spanien seinen ersten und einzigen Länderspieleinsatz. Heute betreut der 42-Jährige für den Deutschen Fußball-Bund (DFB) die U18-Auswahl, arbeitet als Fernsehexperte fürs ZDF und hat neuerdings noch einen Nebenjob: die U14 bei seinem Heimatverein in Auerbach, dem größten Stadtteil des südhessischen Bensheim, zu trainieren.
Dessen Jahrgang ist so gut, dass mehrere Nachwuchsleistungszentren bereits die besten Talente abwerben wollten. Balitsch hat an seinem ältesten Sohn in diesem Team miterlebt, was regelmäßiges Training nach dem neuen Konzept für Kinder- und Jugendfußball bringt. »Es gibt für junge Kicker keine besseren Übungen.« Drei-gegen-Drei. Vier-gegen-Vier. So geht es im Kleinen wie im Großen mit dem deutschen Fußball wieder voran, glaubt der 42-Jährige, der mit U21-Nationaltrainer Antonio di Salvo und Nachwuchsdirektor Hannes Wolf für die nicht unumstrittene Reform Überzeugungsarbeit leistet.
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Von der Pressekonferenz am Mittwoch auf dem DFB-Campus berichtete sogar die ARD-Tagesschau. Das Thema ist in aller Munde. Weit über den Fußball hinaus. Manche wollen darin eine Botschaft erkennen, dass der Leistungsgedanke in Deutschland nicht mehr zählt, wenn es im deutschen Fußball von der U6 bis zur U11 keine Ergebnisse, geschweige denn Tabellen mehr gibt. Mit Hans-Joachim Watzke bediente ausgerechnet einer der mächtigsten Männer kürzlich genau solche Vorbehalte. Der Aufsichtsratschef der Deutschen Fußball-Liga (DFL), Vizepräsident des DFB und Boss von Borussia Dortmund bezeichnete das Kinderfußballkonzept als »unfassbar«, sprach von einem »grundsätzlich falschen Ansatz« und warf sogar eine Reform der Reform in den Raum.
»Wenn du als Sechs-, Acht- oder Neunjähriger nie das Gefühl hast, was es ist, zu verlieren, dann wirst du auch nie die große Kraft finden, um auch mal zu gewinnen.« Watzke garnierte seine Einlassungen noch mit der süffisanten Anmerkung: »Demnächst spielen wir dann noch ohne Ball. Oder wir machen den eckig, damit er den etwas langsameren Jugendlichen nicht mehr wegläuft.« Eine provokante wie populistische Zuspitzung, denn der Inhalt der neuen Trainingsphilosophie zielt auf etwas ganz anderes.
Gut, dass Hannes Wolf aus seiner Zeit als Trainer der BVB-Junioren noch einen direkten Draht zu Watzke hatte: Nach zwei persönlichen Telefonaten sagt der DFB-Nachwuchschef heute: »Alleine, dass wir darüber reden, ist ein Riesengewinn. Ich fand es gar nicht so schlimm – auch wenn er unserer Medienabteilung eine Menge Arbeit gemacht hat.« Damals hatte der Verband im Namen von Präsident Bernd Neuendorf eine Replik verschickt. Doch müsse der DFB sogar dankbar für die Schelte sein, denn: »Mit einer Debatte erreichen wir das nächste Level.« Sonst würden solch wichtige Themen doch oft »gesellschaftlich totgeschwiegen«.
Zugleich müssten die Reformen wirklich verständlich und transparent gemacht werden, wenn ab der nächsten Saison (2024/2025) diese Spielformen bundesweit bei den Jüngsten verbindlich eingeführt werden. Für den früheren Profi-Trainer des VfB Stuttgart und Hamburger SV ist es alternativlos, er will den Rückstand durch eine verlorene Bolzplatzmentalität aufholen. »Es ist essenziell für die Entwicklung der Kinder, dass sie öfter den Ball haben. Das, was wir dadurch bekommen, ist viel, viel mehr wert als eine Tabelle«, betont Wolf.
»Ballsicherheit unter Druck, Zweikampfführung – da sind Dinge verloren gegangen«, bestätigt U21-Nationalcoach di Salvo, der ebenfalls über seinen bei einem kleinen Münchner Verein kickenden Sohn erlebt hat, was im Alltag schiefgelaufen ist: »Da haben Kinder zehn Minuten gewartet, bis sie bei einer Torschussübung dran waren.« Alltagsbeobachtungen, die kein Einzelfall waren. »Es geht um Spaß und Freude«, erläutert Wolf. Nebenbei hätten auch die Erwachsenen weniger Arbeit. Der Coach müsste im Grunde eigentlich nur dafür sorgen, »schnell einen neuen Ball ins Spiel zu bringen«. Das Motto: »Spielen, spielen, spielen!« Ein Training soll am besten so aufgebaut sein, dass auf Kleinfeldern mit vier kleinen Toren häufiger je drei Minuten gekickt wird. Das Ziel: Alle sind in Bewegung, alle haben den Ball – auch die Schwächeren können sich nicht verstecken. Der Wettkampf? Gespielt wird nur noch in Turnierform. Nach jedem Tor müssen die Mannschaften einen Spieler auswechseln. Wer gewinnt, rückt ein Feld vor; wer verliert, geht ein Feld zurück. Nur ist nirgendwo nachzulesen, wer der Sieger ist. »Die Kinder wissen das aber sehr wohl«, sagt Wolf.
Der 42-Jährige ist überzeugt davon, einen Schlüssel zu besitzen, um wieder den Anschluss an die Weltspitze zu schaffen, nachdem die Männer-Nationalmannschaft Vertrauen verspielt hat, die Frauen-Auswahl bei der WM historisch früh gescheitert und die U21 in der EM in der Vorrunde ausgeschieden ist. »Unser Talentepool ist zu gering. Wir haben an den Realitäten vorbeitrainiert und uns dann gewundert, dass die Spieler es im Übergangsbereich nicht mal in die dritte oder zweite Liga geschafft haben; dass gewisse Positionen nicht mehr ausgebildet werden«, erklärt Wolf und bringt ein Beispiel: »Belgien hat halb so viele Einwohner wie Nordrhein-Westfalen. Und dann schauen wir mal, wie viele Topspieler Belgien in den letzten Jahren herausgebracht hat und wie viele Nordrhein-Westfalen. Davor können wir nicht die Augen verschließen und so tun, als hätten wir es bisher besonders gut gemacht.«
Zumindest die Profiklubs sind inzwischen überzeugt. Kürzlich bei einer Fortbildungsveranstaltung in Nürnberg stimmten die Vertreter aller Nachwuchsleistungszentren für die neuen Spielformen. Bei den Amateuren müsste zwar teils noch Überzeugungsarbeit geleistet werden, aber sein Empfinden ist bereits nach wenigen Wochen: »Die Bretter, die wir bohren müssen, nehme ich als gar nicht so dick wahr.« Wolfs Wunsch: »Wir würden in drei Jahren gerne sagen: Wo kommen die vielen guten Spieler her?« In Auerbach soll es sie schon geben.
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