Nach den Terrorangriffen auf Israel fallen Bomben auf Gaza

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu will Rache nehmen für die vielen getöteten Menschen

  • Oliver Eberhardt
  • Lesedauer: 5 Min.

Wie massiv das Ausmaß des Angriffs wirklich ist, begann sich erst am Sonntagnachmittag zu zeigen: Immer noch, viele Stunden, nachdem Dutzende, möglicherweise Hunderte Kämpfer von Hamas und Islamischem Dschihad die Grenze zwischen Gazastreifen und Israel überwunden hatten, waren einige von ihnen in israelischen Ortschaften und auf Autobahnen unterwegs, lieferten sich Gefechte mit den Sicherheitskräften.

Eigentlich ist diese Grenze streng gesichert. Ein Grenzzaun, sehr viele Sensoren, Tausende Soldaten und viel geheime Technik, immer auf dem neuesten Stand, sollen dafür sorgen, dass niemand außerhalb der offiziellen Übergänge diese Grenze überwinden kann. Eigentlich, weil am Samstag das Gegenteil der Fall war: Mit Paraglidern und Bulldozern durchbrachen, überwanden die Kämpfer die Grenze. Und wurden danach zu Terroristen.

Klingelten an Türen, um die Bewohner zu erschießen oder zu entführen; eröffneten das Feuer auf Festivalgäste. Und gleichzeitig regnete es Raketen auf Israels Süden und Zentrum, ungefähr so viele an nur einem Tag wie während des gesamten 38-tägigen Gaza-Kriegs 2014. Einen Tag nach dem 50. Jahrestag des Jom Kippur-Kriegs wurden Israels Politik und Sicherheitsdienste erneut komplett von einem Angriff überrascht.

Nur waren es dieses Mal nicht die arabischen Staaten, die angriffen. Viele von ihnen unterhalten heute offiziell oder verdeckt Beziehungen zu Israel, einige sind sogar zu engen Partnern geworden. Dass nun eine Organisation den Weg von den Selbstmordanschlägen rund um die Jahrtausendwende über die Rolle als politische Führung im Gazastreifen mit einem Terrorangriff von epischen Ausmaßen weitergeht, hat auch in vielen arabischen Regierungen Sorge hervorgerufen. Viele von ihnen stehen im Konflikt mit gewaltbereiten, radikalen Gruppen. Und was nun in Israel passiert, könnte auch eine Anleitung für sie sein.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu steht nun unter immensem Druck: Seit den 90er Jahren hatte er sich mit ständigen Warnungen vor dem Iran als Mr. Security inszeniert. Vor den vielen Wahlen der vergangenen Jahre warb er stets damit, nur er könne für die Sicherheit des Staates garantieren. Nun hat sich gezeigt: Er konnte die Menschen nicht einmal vor der Hamas bewahren, trotz aller Technik vom Feinsten und trotz einer Vielzahl von Kriegen und Konfrontationen mit der Hamas seit 2009. Seitdem übt er das Amt des Regierungschefs mit nur rund eineinhalbjähriger Unterbrechung aus. Und auch wenn jetzt in Medien und Öffentlichkeit nur recht verhalten darüber gesprochen wird, wie es dazu kommen konnte – die Frage steht im Raum.

Eine mögliche Erklärung liegt in den chaotischen Entscheidungsstrukturen, die durch die letzte Regierungsbildung geschaffen wurden. Neben Verteidigungsminister Joaw Galant ist auch Bezalel Smotrich vom rechtsradikalen Wahlbündnis Religiöser Zionismus als Minister ans Verteidigungsministerium angedockt. Ständig streiten die Beiden über Kompetenzen. Zudem wurde schon vor Monaten bekannt, dass die Chefs der Geheimdienste zurückhaltend mit der Weitergabe von Erkenntnissen sind, weil die religiösen Zionisten gewaltbereiten jüdischen Extremisten nahestehen und mehrfach Informationen ausgeplaudert haben. Denkbar ist aber auch, dass man so stark auf die moderne Technik und die Politik der vergangenen Jahre vertraute, dass man nachlässig geworden ist.

Denn Netanjahu führte nicht nur immer wieder Krieg gegen die Hamas, sondern sprach auch über ägyptische Unterhändler aus dem Umfeld des dortigen Geheimdiensts mit der Hamas-Führung in Gaza, behandelte sie zunehmend als Alternative zum alternden, extrem unbeliebten palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas. Und die Hamas-Führung in Gaza rund um Yahya Sinwar gab sich rational, staatstragend, zunehmend dialogbereit.

Nun steht Netanjahu vor der Frage, wie umfassend die militärische Reaktion ausfallen soll. Schon in der Nacht zum Sonntag wurden die Menschen in einigen Wohnvierteln von Gaza dazu aufgefordert, sich in vorgegebene Gebiete zu flüchten, die sicher sein sollen. Ein deutliches Zeichen dafür, dass eine Welle von Luftangriffen bevorsteht. Außerdem wird gerätselt, ob eine Bodenoffensive komm.

Erschwert werden Militäreinsätze nun durch die israelischen Geiseln, deren Zahl in israelischen Medien mit rund 100 beziffert wird. Die Hamas-Propaganda verspricht, dass nun die Freilassung aller palästinensischen Gefangenen in Israel bevorstehe. Doch dass Netanjahu darauf eingeht, gilt als ausgeschlossen. Denn vorangegangene Austausche hatten nach heutiger Lesart nichts zur Verbesserung der Sicherheitslage beigetragen.

Der Hamas-Angriff hat aber auch den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah Al-Sisi und seinen Unterhändler stark unter Druck gesetzt. Zwar regiert er diktatorisch, aber eben von Gnaden des Militärs, dem er bis 2013 vorstand. Wie konnte es passieren, dass auch die Ägypter, trotz ihrer Kontakte zur Hamas, ihrer strengen Kontrolle über die Straße zum Gazastreifen, von den Vorbereitungen nichts mitbekommen haben wollen? Jenseits der Küstenregionen kontrollieren bewaffnete, teils kriminelle, teils islamistische Gruppen die Sinai-Halbinsel, nur wenige Kilometer von den Schmuggelwegen der Hamas entfernt. In Hintergrundgesprächen äußern sowohl israelische als auch ägyptische Militärangehörige die Sorge, dass auch von der Sinai-Halbinsel Raketenangriffe ausgehen könnten – auf beide Seiten. Denn Al-Sisis Führung liegt auch zehn Jahre nach dem Putsch gegen den der Muslimbruderschaft nahestehenden Präsidenten Mohammad Mursi im Konflikt mit der Organisation, die zudem enge Kontakte zur Hamas pflegt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.