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Peter Lintl: »Die Einhegung von Hamas ist gescheitert«
Israel-Experte Peter Lintl, SWP, über die Unwägbarkeiten einer israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen und die Frage nach dem Danach
Wie waren diese massiven und überaus brutalen Überraschungsangriffe möglich angesichts der Stärke des israelischen Militärs und der Geheimdienste?
Anscheinend gibt es zwei Faktoren technischer Natur. Erstens: Offensichtlich gibt es Probleme bei den Diensten, insbesondere beim militärischen Nachrichtendienst Aman, beim Auslandsgeheimdienst Mossad und vor allem beim Inlandsgeheimdienst Schin Bet, der eher für die Palästinenser zuständig ist. Die Dienste haben anscheinend nicht auf dem Schirm gehabt oder zumindest falsch eingeschätzt, dass es zu einem solchen Terrorangriff kommen könnte. Es gibt dazu noch Gerüchte, die ich aber nicht so recht glauben kann, dass angeblich die Ägypter Israel vorher gewarnt hätten, dass so etwas passieren könnte. Aber es scheint mir unwahrscheinlich und ist im Moment auch unbestätigt.
Zweitens hatten Teile der Armee verstärkt ein Augenmerk auf die Westbank. Das hat eine Reihe von Gründen. Tatsächlich war das Westjordanland in den vergangenen Monaten Schauplatz größerer Auseinandersetzungen, wo sich kleinere islamistische Zellen gegründet haben und es Auseinandersetzungen zwischen radikalen Siedlern und Palästinensern gegeben hat. Daher waren circa 80 Prozent der israelischen Truppen im Westjordanland stationiert, auch um Polizeiaufgaben zu übernehmen. Die sind von der Grenze zu Gaza abgezogen worden. Das sind zwei der wesentlichen Gründe.
Zerbricht jetzt die Protestbewegung gegen den Justizumbau, die jede Woche Zehntausende, Hunderttausende Menschen auf die Straße gebracht hat?
Ich würde das Pferd umgekehrt aufzäumen: Jetzt ist erst einmal diese sogenannte Justizreform, also der Umbau des Justizapparats und die Entmachtung der Justiz, aufgeschoben. Proteste gibt es im Moment nicht mehr. Das Vorhaben ist aufgeschoben, weil es so polarisierend war, dass es in der gegenwärtigen Situation nicht mehr vorangetrieben werden kann. Am Donnerstag wurde die Bildung einer Krisenkoalition vereinbart, in die auch Teile der Opposition aufgenommen werden. Unter diesen Umständen ist diese sogenannte Justizreform auf gar keinen Fall weiter voranzutreiben.
Es ist nachvollziehbar, dass es jetzt keine Proteste mehr gibt. Aber ist die Bewegung weiter existent?
Dazu kann man nur sehr wenig sagen. Ich wüsste nicht, warum sie jetzt auf einen Schlag weg sein sollte. Außer es wäre so, wie Teile der politischen Rechten behaupten: Die Bewegung sei schuld daran, dass die Armee unvorbereitet war. Ich glaube, das ist eher eine Randmeinung in Israel. Von daher glaube ich nicht, dass sie weg ist, aber sie spielt im Moment keine Rolle mehr. Der Anschlag hat alles verändert.
Welche Reaktionen erwarten Sie jetzt von Israel? Kommt die Bodenoffensive?
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Aus israelischer Sicht sind mehr oder weniger drei Punkte als Kriegsziele angekündigt worden: Erstens die Hamas handlungsunfähig zu machen und zweitens sicherzustellen, dass solch ein brutaler Angriff nicht mehr passieren kann. Durch diesen Terroranschlag hat sich für die Israelis herauskristallisiert, dass der bisherige Status quo des Containments, also der Einhegung von Hamas, eine gescheiterte Politik ist. Und die logische Folge daraus ist drittens die Zerschlagung der Hamas; zumindest müssen die Hamas und der Islamische Dschihad so schwer getroffen werden, dass sie nicht mehr agieren können und die Herrschaft über den Gazastreifen verlieren. Ob das gelingen kann, ist schwer zu sagen.
Warum?
Sehen wir uns mal die Möglichkeiten an. Ohne Bodenoffensive wird es kaum gehen, und die wird begleitet werden von massiven Luftschlägen. Es gibt drei Szenarien für eine Bodenoffensive: eine kurze, nadelstichartige, mit Geheimdienstberichten gut informierte Invasion beziehungsweise vielleicht nur ein kurzer Einmarsch und wieder Rückzug, mit dem Versuch, Geiseln zu befreien und Hamas-Führer auszuschalten. Ob das ausreicht, ist zweifelhaft. Ein weiteres Szenario ist, dass man mit einer Bodenoffensive quasi die gesamte Infrastruktur zerschlägt. Das ist wahrscheinlicher, aber je breiter die Bodenoffensive, desto höher die menschlichen Kosten, desto mehr Tote auf beiden Seiten. Und wenn man sicher gehen will, dass alle Hamas-Kader erwischt werden, gibt es ein drittes Szenario, nämlich eine door-to-door-policy: Dann wird man sich jedes einzelne Haus vornehmen, alle Leute werden kontrolliert und so weiter. Das wäre mit unglaublichen Kosten verbunden, aber der einzige Weg, bei dem man sicher gehen kann, dass alle Hamas-Kader erwischt werden. Das ist kaum vorstellbar. Es gibt Präzedenzfälle in kleinerem Maßstab, so 2009 in Sri Lanka gegen die Tamil Tigers; da hat es die sri-lankische Armee so ähnlich gemacht. Das wäre so umfassend, dass man sich das fast nicht vorstellen kann, und schon jetzt sind geschätzt 300 000 Menschen auf der Flucht, das heißt, haben ihre Häuser verlassen und sind in UNRWA-Schulen und Ähnlichem untergekommen. Das wird noch wesentlich mehr werden.
Und was wäre nach der Bodenoffensive zu erwarten?
Das ist die große Frage: Was passiert danach? Gehen wir davon aus, Israel gelingt es, die Hamas zu entmachten, dann gibt es wiederum drei Möglichkeiten: Erstens: Israel zieht sich zurück und hinterlässt Chaos, Warlords werden regieren. Das hat überhaupt keine Stabilität. Zweitens: Israel besetzt den Gazastreifen wieder und macht eine umfassende Militärherrschaft daraus. Das hat permanentes Eskalationspotenzial. Die dritte Alternative wäre vielleicht, dass man versucht, dass die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) die Herrschaft dort übernimmt. Aber die ist ja schon im Westjordanland sehr umstritten, weil sie wegen der Sicherheitskooperation als Erfüllungsgehilfin der Israelis wahrgenommen wird. Wenn die PA von den Israelis dort eingesetzt würde, hätte sie kaum Legitimität. Es kann sein, dass ich eine bessere Option nicht sehe, aber die Szenarien für den Tag danach sehen alle nicht gut aus.
Wie beurteilen Sie die Abriegelung des Gazastreifens? Die UN und das Internationale Rote Kreuz haben sie als völkerrechtswidrig verurteilt.
Es gibt schon bisher nicht viel Wasser im Gazastreifen, und es gab zuletzt ohnehin nur acht Stunden Elektrizität; jetzt sind es wahrscheinlich nur drei oder etwas weniger, in denen der Strom funktioniert. Das Desaster war also vorher schon groß. Nach meiner Lesart ist das ein Versuch, irgendeine Art von Gegengewicht zu bekommen für die Geiseln, die die Hamas genommen hat, ein Stück Verhandlungsmasse in einem möglichen Geiselaustausch.
Wie wird die Hamas reagieren, sollte es zu einer Bodenoffensive kommen, angesichts der Tatsache, dass sie über 100 Geiseln in ihrer Gewalt hat?
Die Hamas hat ja schon gesagt, dass sie dann die Geiseln nach und nach töten wird. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber das wäre natürlich dramatisch. Wenn das öffentlich gefilmt wird, wäre das wie beim Islamischen Staat (IS). Des Weiteren ist die Hamas bei einer Bodenoffensive tendenziell im Vorteil, weil sie das Territorium sehr gut kennt und gezeigt hat, dass zivile Opfer für sie kein Hindernis darstellen. Umgekehrt tun sie das für die Israelis schon. Je länger eine solche Bodeninvasion andauert, desto vorteilhafter ist es für die Hamas, weil die Verluste, die die Israelis tragen, natürlich eine Diskussion in der israelischen Gesellschaft darüber mit sich bringen werden, wo diese Bodenoffensive denn hingehen soll, je höher die Verluste sind.
Es gibt verschiedene Theorien, warum Hamas gerade jetzt losgeschlagen hat. Eine davon hängt mit dem Versuch zusammen, die Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien zu torpedieren und den Normalisierungsprozess mit den arabischen Staaten, der im September 2020 angestoßen wurde mit dem von Ex-US-Präsident Trump initiierten Abraham-Abkommen, zu Grabe zu tragen. Glauben Sie, dass die Hamas das im Blick hatte?
Es gibt einen Strauß von Motivationen und Vorbedingungen. Ich glaube, man muss auf unterschiedlichen Ebenen unterscheiden. Warum haben sie es jetzt gemacht? Ich glaube, weil sie überzeugt waren, dass es jetzt operativ umzusetzen ist; eine ganz banale Antwort. Von Hamas-Gefangenen hört man, dass sie überrascht waren, dass es noch einfacher war, als sie gedacht hatten, also dass die Israelis so wenig vorbereitet waren. Das ist meine operative Einschätzung. Ansonsten gab es in diesem Jahr drei Entwicklungen, die das begünstigt haben. Das eine ist, dass Israel sich auf sich selbst konzentriert, den Fokus vor allem auf den Justizumbau und das Westjordanland gelegt hat. Das zweite ist die Annäherung von Saudi-Arabien an Israel. Ich glaube nicht, dass die Hamas einen Befehl vom Iran bekommen hat, aber man weiß seit geraumer Zeit, dass der Iran, Hisbollah, Hamas und der palästinensische Islamische Dschihad sich in regelmäßigen Abständen zumindest besprochen und koordiniert haben. Das ist die sogenannte Achse des Widerstands, für die eine solche Normalisierung natürlich ein Dorn im Auge ist, weil diese ja auch gegen den Iran und seine Proxies gerichtet ist. Und daher war das durchaus auch ein strategisches Ziel. Eine weitere Entwicklung hängt damit zusammen, dass sich der Nahe Osten im Laufe des vergangenen Jahres neu konfiguriert hat, nämlich dass Baschar Al-Assad wieder in die Arabische Liga aufgenommen wurde. Dadurch standen sich Hamas und der Iran im syrischen Bürgerkrieg nicht mehr, wie noch vor einigen Jahren, auf unterschiedlichen Seiten gegenüber, sondern man konnte wieder kooperieren. Und deswegen konnte die Achse des Widerstands wieder aufleben.
Gibt es weitere ausschlaggebende Faktoren?
Es gibt noch weitere Entwicklungen, von denen man mindestens zwei nennen muss. Langfristig hatte die Hamas seit 2014 Zeit, ihre Raketen aufzufüllen, Strategien zu überlegen, Gelder beiseite zu schaffen und so weiter. Anders als der Islamische Dschihad hat die Hamas seit 2014 quasi eine Art Waffenstillstand mit Israel gehabt. Das andere ist die langfristige Verschlechterung – und das ist als Begriff weit untertrieben -– des Verhältnisses zwischen Israel und den Palästinensern. Der Konflikt ist an einem so tiefen Punkt angelangt, dass es auf beiden Seiten die Bereitschaft gibt, gewaltsam gegen die andere Seite vorzugehen. Die Anerkennung der Legitimität der anderen Seite, also der Palästinenser gegenüber den Israelis und umgekehrt, ist quasi überhaupt nicht mehr gegeben gewesen. Das hat auch Akteure befeuert, die bereit sind, Gewalt anzuwenden. Man sieht jetzt in der arabischen Welt, dass die Hamas durchaus einen medialen Erfolg hat. Die Unterstützung der arabischen Welt für diese Massaker ist enorm auf der Straße.
Der Normalisierungsprozess mit den arabischen Nachbarn hat sich aus meiner Sicht als Irrweg erwiesen für die Lösung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern, weil diese davon keinerlei Vorteile hatten. Wie sehen Sie das?
Ja, schon richtig, aber das war ja nie das Ziel.
Aber der Normalisierungsprozess führt zu einer Verstetigung des Status quo zwischen Israel und den Palästinensern. Warum haben die USA, Deutschland und die EU sich davon blenden lassen und nicht gesehen, dass da ein schwelender Konflikt ungelöst bleibt?
Das würde ich gar nicht so sehen, ich sage Ihnen auch warum. Ex-Präsident Trump hat sich überhaupt nicht blenden lassen. Trump wollte genau das haben, ihm waren die Palästinenser schlicht egal. Und Netanjahu schreibt seit den späten 80er Jahren, dass der Frieden in Nahost nicht über die Palästinenser führen muss, sondern über die arabischen Staaten. Dann habe man vielleicht mal Frieden mit den Palästinensern. Das ist schon immer das Ziel von Netanjahu gewesen. Und die Europäer? Die haben das adressiert, auch die Probleme eines solchen Deals für die Palästinenser, nur kann man nicht sagen, dass es grundsätzlich etwas Schlimmes ist. Wenn zwei Staaten ihre Beziehungen normalisieren, ist das nichts Schlimmes, nur ist es beklagenswert, dass an der palästinensischen Front nichts passiert ist. Ich glaube aber nicht, dass sich da irgendjemand Illusionen gemacht hat.
Da hätte ich von deutscher und europäischer Seite Initiativen erwartet, um einer Lösung des Konflikts näherzukommen.
Versuche gab es auch. Kurz vor dem Abraham-Abkommen legten die USA im Januar 2020 diesen Trump-Plan vor. Den haben die Europäer abgelehnt und auf den Grenzen von 1967 beharrt. Zudem sind die Europäer unter Trump in Israel nicht gehört worden. Warum sollte man auch auf die Europäer hören, wenn einem Trump alles gibt, was man haben will.
Wie schätzen Sie die Rolle des Iran ein? Die USA haben erklärt, es gebe bislang keine Beweise für eine direkte Involvierung.
Die Hamas ist wesentlich unabhängiger vom Iran als der palästinensische Islamische Dschihad. Der ist auch kein direkter Befehlsempfänger des Iran, aber schon mehr als die Hamas. Was der Iran mit großer Sicherheit gemacht hat, ist, zumindest Waffenteile über den Sinai in den Gazastreifen zu schmuggeln. Er hat Gelder an die Hamas allokiert, und wie schon erwähnt gibt es diese regelmäßigen Treffen im Libanon, die auch bekannt sind und bei denen die Teilnehmer sich fotografieren lassen. Da werden sicherlich auch strategische Fragen besprochen werden. Dass der Iran der Hamas gesagt hat »Ihr müsst jetzt losschlagen«, das glaube ich nicht. Aber natürlich ist der Iran ein doppelter Nutznießer dieses Angriffs. Erstens, weil die Abschreckungsposition Israels deutlich geschwächt wurde. Der Eindruck bleibt: Der israelische Geheimdienst ist ja gar kein Wundergeheimdienst. Er hat versagt, auch die Armee. Gleichzeitig, wenn man mit Israelis spricht und sich die Reaktionen aus der arabischen Welt anhört, macht sich hier große Konsternation und emotionale Enttäuschung breit, dass weite Teile der arabischen Welt diesen Angriff feiern; dass auch die arabischen Staatsführer, mit denen man Friedensverträge geschlossen und mit denen man die Beziehungen normalisiert hat, dass diese sich sehr bedeckt halten und diese Attacke nicht verurteilen. Erstens ist die Abschreckung Israels nicht mehr gegeben; zweitens ist auch die emotionale Distanz in den Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten gewachsen, die auch immer ein Stück weit gegen den Iran gerichtet waren. Jetzt ist da eine größere Distanz und Israel ist wesentlich isolierter. Das sind beides Punktsiege für den Iran.
Die arabischen Staaten schienen nach den Terrorangriffen ein bisschen wie gelähmt und wussten anfangs gar nicht, wie sie reagieren sollten. Wer wäre denn zum gegenwärtigen Zeitpunkt überhaupt in der Lage, die akuten Kampfhandlungen zu einer Waffenruhe zu bringen? Glauben Sie, dass wie in der Vergangenheit Ägypten zwischen den Konfliktparteien vermitteln kann? Oder die Türkei?
Ägypten wird eine andere Rolle spielen und sich gut dafür bezahlen lassen, dass es die Tore zum Gazastreifen aufmacht und dort Flüchtlinge aufnimmt. Das Land baut jetzt schon Zeltlager auf. Aber vermitteln ist in der nächsten Zeit sehr, sehr schwierig – wegen der Zielsetzung der Israelis und wegen der gefühlten absoluten Notwendigkeit, dass man verhindern muss, dass so etwas nochmals passiert. Es ist zynisch, aber ich sehe erst Vermittlungschancen, wenn wirklich die Todeszahlen sehr stark in die Höhe schnellen.
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