»Israel kann sich einen langen Krieg nicht leisten«

Nahost-Experte Sergei Melkonian über die Gefahren einer Eskalation, sollte die libanesische Hisbollah in den Krieg eingreifen

  • Interview: Roland Bathon
  • Lesedauer: 5 Min.

Der französische Präsident Emmanuel Macron betonte in einem Gespräch mit dem iranischen Präsidenten vor wenigen Tagen dessen Verantwortung, eine Eskalation des aktuellen Konflikts über die Hisbollah zu verhindern. Bekommt die Hisbollah ihre Weisungen aus Teheran?

Wie viele andere schiitische Gruppen trifft die Hisbollah ihre Entscheidungen auf taktischer Ebene weitgehend autonom. Hier ist die Hisbollah von all diesen Organisationen sogar die, die am stärksten autark ist. Sie hat wirtschaftliche und militärtechnische Möglichkeiten, selbst für sich zu sorgen. So ist sie recht autonom. Sie arbeitet auch am Aufbau ihres eigenen, unabhängigen Netzwerks in Syrien.

Hat der Iran also wenig Einfluss auf Entscheidungen der Hisbollah?

Nur in taktischer Hinsicht. Geht es um strategische Entscheidungen mit großer Tragweite, etwa die generelle Eröffnung einer zweiten Front gegen Israel, wird die Hisbollah sich natürlich mit dem Iran abstimmen. Nicht nur, weil der Iran die Hisbollah gegründet hat, sondern auch, weil er dann indirekt in diese Konfrontation verwickelt sein würde. Die Eskalationsspirale könnte sich in seine Richtung drehen, ihn selbst gefährden. Daher besteht die Notwendigkeit, den Willen des Iran mit der Eröffnung einer zweiten Front nicht zu ignorieren.

Wie groß schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass die Hisbollah eine solche zweite Front eröffnet?

Interview

Sergei Melkonian ist Research Fellow am Applied Policy Research Institute von Armenien in Jerewan und Experte für die russische Nahost-Politik. Zuvor war er Dozent an der Diplomatischen Akademie in Moskau.

Sie ist hoch und dann entsteht ein Krieg an zwei Fronten. Die Hisbollah hat rote Linien markiert. Eine davon ist eine groß angelegte Bodenoperation Israels gegen den Gazastreifen. Eine solche wird unweigerlich die Hisbollah zur Eröffnung einer zweiten Front animieren. Schon jetzt sind ihre Reaktionen recht spiegelbildlich. Israel hat praktisch wieder die volle Kontrolle über sein gesamtes Territorium um den Gazastreifen zurück. Ein begrenztes Kontingent an Soldaten dringt bereits in ihn ein. Die Hisbollah setzt im Gegenzug Mörser, Drohnen und Raketen ein. Sie befindet sich also schon in einer Konfrontation mit Israel – mit geringer Intensität. Bisher gab es darauf keine Reaktion der USA, die eingreifen, wenn jemand die Situation nutzt, um Israel anzugreifen. Wir haben auf jeden Fall keine gewichtigen Argumente dafür, dass die Hisbollah ihre Aktivität vor dem Hintergrund einer groß angelegten israelischen Invasion des Gazastreifens stoppen wird. Also wird eine zweite Front wahrscheinlicher.

Wäre die israelische Armee einem Eingreifen der Hisbollah militärisch gewachsen?

Wegen trauriger Lehren aus der letzten Konfrontation hat die israelische Armee natürlich Vorbereitungen getroffen: Man führte große Militärmanöver an der Nordgrenze durch, sowohl in Richtung Syrien als auch zum Südlibanon hin. Beide Regionen wurden militärisch zu einer Nordfront vereinigt, die es so vor sieben oder acht Jahren noch nicht gab.

Wäre dann ein Zweifrontenkrieg militärisch kein Problem für Israel?

Ich würde nicht sagen, dass Israel auch zu einem solchen gleichzeitigen Kampf bereit ist. Experten warnen vor einem solchen Szenario, in dem Israel eine Bodenoffensive bei Gaza beginnt. Denn die Strategie ist darauf ausgerichtet, Bedrohungen einzudämmen, auf Angriffe zu reagieren, sie auszuschalten – und nicht, selbst welche zu beginnen. Man muss die Hamas zerstören, ihre Infrastruktur. Das hat man vor fast neun Jahren bereits versucht und wie man sieht, wurde dieses Ziel nicht erreicht. Weiterhin ist es ein Unterschied, wenn Israel seine Aktionen auf feindliches Territorium verlegt. Bisher wurden die Kämpfe auf israelischem Gebiet ausgetragen. Israel kann sich einen langen Krieg nicht leisten und sollte danach streben, diesen Konflikt so schnell wie möglich zu beenden. Trotz der Hilfe der USA sind die wirtschaftlichen Fähigkeiten begrenzt und es kommt nicht nur auf die militärtechnische Komponente an.

Es ist häufig die Rede davon, die Hisbollah sei militärisch viel stärker als die Hamas. Über welche Möglichkeiten verfügt sie, die die Hamas nicht hat?

Das ist in der Tat so. Die Hisbollah befindet sich praktisch im ständigen Kriegszustand. Soldaten und Offiziere waren zehn Jahre im Syrienkrieg vor Ort. So verfügen sie über eine enorme Erfahrung bei Kampfeinsätzen. Das Raketenarsenal der Hisbollah ist um ein Vielfaches größer als das der Hamas. Das wissen auch die Israelis. Darunter gibt es eine große Zahl an präzise lenkbaren Raketen. Diese Menge kann den Iron Dome, das israelische Raketenverteidigungssystem, überlasten. Die Fähigkeiten der Hisbollah übertreffen die der Hamas bei Weitem.

Wäre es denkbar, dass es nach israelischen Angriffen auf die Hisbollah sogar zu einer direkten Kriegsbeteiligung des Iran kommt?

Der Iran muss nicht zwingend in den Konflikt einbezogen werden. Angriffe der Hisbollah auf israelische oder unterstützende US-Infrastruktur können vom Territorium des Irak oder Syriens ausgehen. Stellen Sie sich das Ganze wie eine Matroschkapuppe vor: Der Iran ist nicht die äußerste Schicht; auch Israel durchläuft viele Phasen, bevor der Iran direkt beteiligt ist. Das ist erst der Fall, wenn die Sicherheit des Iran auch direkt bedroht ist.

Würden die iranischen Truppen in Syrien dabei eine Rolle spielen?

Sie können eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel bei Transport- und Logistikaufgaben. Ein ganzes Netzwerk könnte dort aktiviert werden – Personal, Militärstützpunkte, die gegen Israel aktiv werden können –, aber von syrischem Territorium aus, in einer koordinierenden Rolle. Ich sehe keine Aussicht für Israel, dieses Netz einseitig zu zerstören.

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