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Gesellschaftskritik und Antisemitismus: Grund zur Selbstkritik
Über die geringe Bedeutung des Antisemitismus in gegenwärtigen kritischen Theorien
»Wir haben es mit einer allgemeinen Krise der gesamten Gesellschaftsordnung zu tun, in der all diese Krisen konvergieren, sich gegenseitig verschärfen und uns zu verschlingen drohen«, konstatiert Nancy Fraser, eine der bedeutendsten kritischen Theoretikerinnen der Gegenwart, die aktuelle Herausforderung. Ihr zuletzt erschienenes Buch »Cannibal Capitalism« (in der deutschen Übersetzung unter dem Titel »Der Allesfresser«) »zeichnet dieses gewaltige Geflecht aus Dysfunktion und Beherrschung nach«. Dabei will Fraser »unseren Blick auf den Kapitalismus um die außerökonomischen Zutaten des Kapital-Speisezettels« erweitern und somit »alle Unterdrückungen, Widersprüche und Konflikte der gegenwärtigen Situation in einem einzigen analytischen Rahmen« zusammenfassen.
Ein solch umfassendes Programm ist angesichts der von Fraser angesprochenen konvergierenden Krisen (gemeint sind die Klimakrise, die Care-Krise, die Krise der Demokratie und der wachsende Rassismus) nur allzu angebracht. Verwundern muss allerdings, dass in diesem lesenswerten Buch zwar dem Anspruch nach alle gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte aufgehoben sein sollen, vom Antisemitismus darin aber mit keinem einzigen Wort die Rede ist – nicht einmal in jenen Kapiteln des Buchs, die einen historischen Bezug haben.
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Denn bereits vor dem 7. Oktober 2023, dem Tag des größten antisemitischen Massakers seit der Shoah, ließen sich ein weltweiter Anstieg antisemitischer Straftaten und eine zunehmende Verbreitung antisemitischer Tropen in zahlreichen politischen Auseinandersetzungen und Diskursen feststellen. Warum spielt der Antisemitismus trotz dieser Omnipräsenz in Frasers Perspektive – die in gewisser Weise symptomatisch für die akademische Linke ist – auf die »Unterdrückungen, Widersprüche und Konflikte« unserer Gegenwart keine Rolle?
Aus dem Blick geraten
Um diese Frage zu beantworten, muss man den Blick etwas erweitern und ihn auf die Geschichte der Kritischen Theorie richten. Für die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers von den 1930er bis in die 1960er Jahren spielte der Antisemitismus noch eine so zentrale Rolle, dass die kapitalistische Gesellschaft sich ohne eine Theorie des Antisemitismus gar nicht begreifen ließ. In der systematischen Entwicklung der theoretischen Ansätze der späteren Generationen der Kritischen Theorie – von Jürgen Habermas und Axel Honneth bis zu Rainer Forst, Rahel Jaeggi, Robin Celikates und vieler anderer mehr – hatte und hat der Antisemitismus hingegen keine konstitutive Bedeutung. Mit dem Ende des Nationalsozialismus schien auch der Antisemitismus als Referenzpunkt zunehmend unwichtiger, weswegen sich der philosophische Mainstream der Kritische Theorie fortan in der Analyse und Kritik der kapitalistischen Gesellschaft nicht mehr systematisch mit ihm zu beschäftigen müssen glaubte.
Zwar kann kein Zweifel daran bestehen – und dasselbe gilt auch für Fraser –, dass die genannten Autor*innen Antisemitismus für ein ernstzunehmendes gesellschaftliches Problem halten, das politisch bekämpft werden muss und vor dem Jüdinnen und Juden geschützt werden müssen. Doch dies hat sich nicht in eine philosophische und gesellschaftstheoretische Beschäftigung mit dem Antisemitismus übersetzt. Um das etwa am Beispiel von Jürgen Habermas aufzuzeigen: Habermas hat sich seit den 1960er Jahren vor allem mit der Frage beschäftigt, wie gesellschaftliche Verhältnisse gestaltet sein müssen, um die demokratische Beteiligung aller ihrer Mitglieder zu garantieren und sich vor einem erneuten Rückfall in autoritäre Herrschaft schützen können. Der Fokus lag deswegen vor allem auf der fortschreitenden Verrechtlichung der gesellschaftlichen Beziehungen, wodurch die Bedeutung von Ideologiekritik immer geringer wurde, die für eine Kritik des Antisemitismus jedoch unverzichtbar ist. Gleichwohl hat Habermas bis zuletzt nie einen Zweifel daran gelassen, dass Antisemitismus politisch bekämpft werden muss, wovon auch seine Stellungnahmen im Historikerstreit ein Zeugnis ablegen. Zuletzt konnte man dies noch in einem Interview nachlesen, das er 2021 dem »Philosophie Magazin« gegeben hat.
Ohne darum den genannten Autor*innen einen persönlichen Vorwurf zu machen, wäre grundlegend zu fragen, warum in einer Theorietradition, zu deren Kern die Antisemitismuskritik und speziell die Reflexion auf die Shoah gehörte, ausgerechnet in Deutschland und in Zeiten eines zunehmenden und immer enthemmter auftretenden Antisemitismus von links und von rechts darüber kaum noch nachgedacht wird.
Die Kritische Theorie hat sich erfreulicherweise und zu ihrem Vorteil in den letzten Jahrzehnten verstärkt mit verschiedenen Formen der Diskriminierung und Gewalt beschäftigt und entsprechende theoretische Erweiterungen vorgenommen. Rassismus, Sexismus und jüngst Transfeindlichkeit wurden häufiger und intensiver zum Gegenstand der Kritik. Damit ist auch eine wachsende Nähe zu sozialen Bewegungen und eine internationale Vernetzung der Kritischen Theorie verbunden, die auch hiesige Diskussionen zunehmend bestimmen.
Schwer zu vermitteln
Diese Verbreiterung hätte allerdings nicht zwangsläufig zu einem allmählichen Verschwinden des Antisemitismus aus dem Themenspektrum des Mainstreams der Kritischen Theorie führen müssen. Denn als Brückenideologie, die Linke und Rechte verbindet, wäre der Antisemitismus gerade für eine sich thematisch breiter aufstellende Kritische Theorie ein offensichtlicher Gegenstand gewesen. Die Überschneidungen von Antisemitismus, Rassismus und Sexismus werden mittlerweile sozialwissenschaftlich immer stärker erforscht, was etwa die grundlegenden Arbeiten von Karin Stögner, Lars Rensmann oder Samuel Salzborn überzeugend vorführen. Es würde also für die philosophische und gesellschaftstheoretische Kritik gerade heute naheliegen, sich damit auseinanderzusetzen. Allerdings macht es – wie nicht zuletzt Frasers jüngstes Buch zeigt – der begriffliche Rahmen, mit dem die heutige Gesellschaft in der gegenwärtigen Kritischen Theorie untersucht wird, schwer, die Spezifik des Antisemitismus im Unterschied zu anderen Formen der Diskriminierung richtig zu bestimmen. Darin bestünde aber eine dringliche Aufgabe der Kritischen Theorie heute.
Zwar ist es einerseits für kritische Theoretiker*innen vollkommen selbstverständlich, dass Antisemitismus zu kritisieren ist, auch dann, wenn das begriffliche Instrumentarium dafür nicht ausreichend entwickelt ist. Andererseits dürfte das Schweigen vor allem zum linken Antisemitismus damit zusammenhängen, dass es vor allem mit Blick auf den Konflikt zwischen Israel und Palästina schwer fällt, offen zu benennen, wo die in sozialen Bewegungen und internationalen Theoriezusammenhängen geäußerte Kritik an der israelischen Politik bereits in Antisemitismus umgeschlagen ist.
Nun haben die in den sozialen Medien sichtbaren Reaktionen auf das Massaker vom 7. Oktober – wie leider zu erwarten war – ein erschreckendes Ausmaß an klammheimlicher und offener Freude über die zum »palästinensischen Befreiungskampf« euphemisierten Morde der Hamas ans Tageslicht befördert. Dabei ist erneut offensichtlich geworden, dass es innerhalb vieler gegenwärtig bedeutender sozialer Bewegungen ein Antisemitismusproblem gibt, das sich bis an die Universitäten fortsetzt, was in einem aktuellen offenen Brief linker israelischer Wissenschaftler*innen deutlich kritisiert wird.
Für eine Kritik des Antisemitismus
Angesichts der erschreckenden Dimension des jetzt hervorbrechenden Antisemitismus, vom islamistischen Terror bis zu dessen Relativierung, zeigt sich, dass die Beschäftigung damit nicht nur eine spannende Erweiterung des Panoramas der Gesellschaftskritik wäre, sondern zu deren Kernbestand gehören muss. Hier läge nun die genuine Aufgabe kritischer Theorien: zu erforschen und zu klären, warum soziale Bewegungen und mit ihnen sympathisierende und sich als Kritiker*innen verstehende Intellektuelle antisemitische Morde beklatschen oder relativieren. Dass dies schwerfällt, weil dann der offene Konflikt mit Aktivist*innen gesucht werden müsste, als deren Verbündete man sich selbst begreift, und mit Kolleg*innen an den Akademien, mit denen man kooperiert, ist klar. Das ändert aber nichts daran, dass es dringend nötig ist.
Zum Schluss: Das hier ist kein »blame game« oder eine Schuldzuweisung. Ich habe, wie alle anderen kritischen Theoretiker*innen, auch selbst Nachholbedarf bezüglich vieler sozialer Phänomene. Deswegen möchte ich diesen Beitrag nicht – wie es so oft geschieht – mit einer Polemik schließen, die mich selbst ins Recht setzt, sondern mit einem Vorschlag. Ich schlage vor, dass all diejenigen, die in den letzten Jahren ihre beeindruckende intellektuelle Energie den von Fraser genannten konvergierenden Krisen gewidmet haben, diese nun auch für eine Kritik des Antisemitismus nutzen und dabei an die bereits geleistete Arbeit von Stögner, Rensmann und anderen anschließen. Wie könnte eine abolitionistische Perspektive auf den Antisemitismus der Gegenwart aussehen? Wie könnten soziale Lebensformen dem Antisemitismus als regressiver Problemlösungsstrategie auf progressive Weise begegnen? Welche Bedingungen müssten für eine soziale Praxis der Befreiung vom Antisemitismus hergestellt werden? Wie sähe eine Kritik der politischen Epistemologie des gegenwärtigen Antisemitismus aus? Denn die Stimmen derjenigen, die Antworten auf diese Fragen geben könnten, werden dringend benötigt.
Philip Hogh ist seit 2022 Professor für praktische Philosophie an der Universität Kassel. Sein neues Buch »Ethischer Materialismus. Kritische Theorie des Leidens« erscheint Anfang nächsten Jahres im Felix Meiner Verlag.
Hinweis der Redaktion: In der Onlinevariante des Artikels wurde nachträglich der Verweis auf bestehende Arbeiten kritischer Theoretiker*innen zum Antisemitismus ergänzt.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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