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Asylbewerberleistungsgesetz: Appell gegen rassistischen Zeitgeist
30 Jahre nach Beschluss des Asylbewerberleistungsgesetzes erneuern Organisationen Kritik
Im September 1991 griffen Nazis in Hoyerswerda zuerst ein Wohnheim für Vertragsarbeiter und später eine Flüchtlingsunterkunft mit Molotowcocktails und Steinen an. Es war der Auftakt einer jahrelangen rassistischen Anschlagsserie. Am 19. September 1991 starb dabei Samuel Kofi Yeboah bei einem Nazi-Brandanschlag in Saarlouis. In Rostock-Lichtenhagen herrschte im August 1992 vor der Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber pogromartige Stimmung mit mehreren Hundert beteiligten Rechten und bis zu 3000 Zuschauer*innen. Beim Brandanschlag auf zwei Häuser in Mölln starben am 23. November 1992 die beiden Mädchen Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz und ihre Großmutter Bahide Arslan. Beim Mordanschlag auf das Haus der Familie Genç am 29. Mai 1993 in Solingen starben Gürsün İnce, Hatice Genç, Gülüstan Öztürk, Hülya Genç und Saime Genç.
Diese und viele weitere rassistische Mordtaten prägten den Anfang der 90er Jahre. Statt konsequent den Rechtsextremismus zu bekämpfen, war die Antwort der Politik der sogenannte »Asylkompromiss«. Mit ihm wurde das Grundrecht auf Asyl massiv eingeschränkt. Unter anderem durch die Einführung des Prinzips der sicheren Drittstaaten, nach dem Menschen, die über solche »sicheren« Staaten eingereist sind, sich nicht mehr auf das Asylrecht berufen dürfen. Zudem wurde das Asylbewerberleistungsgesetz eingeführt und damit erstmals eine Bevölkerungsgruppe aus der Sozialhilfe ausgeschlossen. In Kraft trat das Gesetz am 1. November 1993.
Appell von zahlreichen Organisationen
30 Jahre später erinnert vieles wieder an den Beginn der 90er. Statt zum Beispiel die soziale Ungleichheit zu bekämpfen, wird als Antwort auf die Wahlergebnisse der AfD erneut die Entrechtung von Geflüchteten vorangetrieben. Es gibt leider auch Unterschiede zur Situation vor 30 Jahren. 1992 demonstrierten in Bonn etwa 200 000 Menschen für den Schutz des Asylrechts – Zahlen, die heute unvorstellbar wirken.
Jetzt sind es mehr die Verbände, die für die Flüchtlingsrechte kämpfen. Zum 1. November, dem Jubiläum des Asylbewerberleistungsgesetzes, veröffentlichten, initiiert von Pro Asyl, 154 Organisationen, darunter Amnesty International Deutschland, die Ärzte der Welt, die AWO, der Paritätische Gesamtverband, die Diakonie etc. einen eindringlichen Appell mit dem Titel »Die Menschenwürde gilt für alle – auch für Geflüchtete«. Darin sprechen sich die Unterzeichner gegen sozialrechtliche Verschärfungen und für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes aus.
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2012 hatte das Bundesverfassungsgericht klargestellt: »Auch migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerberinnen und Asylbewerber sowie Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«
Regelsatz 100 Euro unter dem Bürgergeld
Obwohl dieses Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz sehr klar formuliert ist, war es nicht wegweisend. Aktuell liegt der Regelsatz für alleinstehende Flüchtlinge mit 410 Euro noch einmal fast 100 Euro unter dem Satz im Bürgergeld, obwohl dieser doch schon das Existenzminimum abbilden soll. Wer wie die Länderchefs über die Umstellung von Geld- auf Sachleistungen für Geflüchtete »einen Beitrag zur Reduzierung von Fehlanreizen für irreguläre Migration leisten« will, stellt sich gegen das höchste deutsche Gericht und damit gegen den Rechtsstaat. »Kein Mensch, der aus einem Krieg oder vor politischer Verfolgung flieht, gibt die Flucht auf, weil er oder sie in Deutschland demnächst mit noch mehr Sachleistungen leben muss«, sagt dazu Pro Asyl.
In einem jüngeren Urteil aus dem November 2022 hatte das höchste deutsche Gericht eine niedrigere »Sonderbedarfsstufe« für alleinstehende erwachsene Asylbewerber in Sammelunterkünften für verfassungswidrig erklärt. Die vorgeschlagene Antwort im sogenannten Deutschlandpakt: Geflüchtete, die in Gemeinschaftsunterkünften leben, sollen weniger Geld bekommen, weil sie angeblich weniger bräuchten, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken.
Der aktuelle Diskurs, so der Appell von Pro Asyl, suggeriere, »Geflüchtete seien die zentrale Ursache für die zweifellos vorhandenen gesellschaftlichen Missstände wie fehlender Wohnraum oder fehlende Schul- und Kitaplätze«. Diese haben jedoch andere Ursachen, so der Appell, und würden auch bestehen, würde Deutschland keine Asylsuchenden aufnehmen. Die Organisationen fordern das gleiche Recht auf Sozialleistungen für alle in Deutschland lebenden Menschen, ohne diskriminierende Unterschiede und die Integration der Asylbewerber*innen in das reguläre Sozialleistungssystem.
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