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Ausgeschlagenes Erbe
Die Frankfurter Gastprofessur für kritische Gesellschaftstheorie wurde wieder neu besetzt. Ein Rückblick auf die jüngste Geschichte kritischer Lehre
Es ist nicht allzu lange her, dass die Gastprofessur für kritische Gesellschaftstheorie in Frankfurt den Lehrbetrieb sowohl am Laufen hielt als auch mit ihrer bloßen Präsenz in Frage stellte. Ich erinnere mich an die unheimlich überfüllten und doch für uns alle, die teilnahmen, langfristig prägenden Seminare.
Im Jahre 2016/2017 hatte Daniel Loick die Gastprofessur inne. Er gab unter anderem eine Einführung in die kritische Theorie (mit kleinem »k«) an der in etwa 400 Menschen teilnahmen, obwohl die Veranstaltung ursprünglich »nur« als Seminar geplant war. Ich selbst war damals studentische Hilfskraft der Gastprofessur und konnte zum ersten Mal hinter die Kulissen des akademischen Betriebs schauen. Erschreckend, was sich da vor mir auftat. Einerseits war das Interesse an den Veranstaltungen der Gastprofessur mehr als erfreulich: 400 junge Studierende, die trotz Platzmangel, Hitze, Lautstärke und einer Menge Lesestoff regelmäßig in den überfüllten Saal strömten, um sich gemeinsam einen Zugang zur kritischen Theorie zu erarbeiten. Statt auf eine Vorlesung umzusteigen, wie es sich mit dieser Zahl Teilnehmender anbieten würde, etablierten sich kleine Diskussionsgruppen, die sich wöchentlich intensiv mit den Texten auseinandersetzten. Dadurch wurden wichtige Begegnungs- und Lernräume geschaffen, die eigenen Kommiliton*innen lernte man in diesem Format persönlich näher kennen.
Hoher Bedarf und wenig Rückhalt
Obwohl so viele Menschen in einem so engen Saal waren, hatte man das Gefühl, plötzlich an der Uni Luft zum Atmen gefunden zu haben. Die Themenwahl hatte nämlich einen Nerv getroffen – ob nun Beauvoir, Crenshaw, Adorno, Marx oder Althusser gelesen wurden. Wir hatten einen enormen Hunger nach den vielfältigen Spielarten kritischer Theoriebildung, mit denen wir uns nun endlich im Rahmen unseres Studiums befassen konnten. Und nicht nur das, wir hatten auch einen Tatendrang. Außerhalb der Vorlesung etablierten sich schnell zahlreiche Lesekreise zur Vor- und Nachbereitung der Veranstaltung. Es gab das Bedürfnis, uns gegenseitig zu einem Verständnis der uns umgebenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verhelfen, um sie mitgestalten und verändern zu können.
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Andererseits war es besorgniserregend, zu sehen, wie wenig institutionellen Rückhalt es für diese Professur gab. Die schiere Zahl der Teilnehmenden sprach für sich: Dass sich die Studierenden hier so ballen, konnte nur heißen, dass es außerhalb der Gastprofessur nicht genügend kritische Lehrangebote gab. Auch heute erscheint mir dies nicht anders. Entsprechend ist damals wie heute die Gastprofessur bitter nötig. Dieser beinahe selbstevidenten Schlussfolgerung stand jedoch die Ausstattung der Gastprofessur diametral entgegen. Meine eigene Stelle als studentische Hilfskraft war auf bloße zwei Monate begrenzt. Dabei weiß jede Person, die je in den universitären Lehrbetrieb involviert war, dass das vorne und hinten nicht reicht, selbst bei einer Professur mit einem geringeren Workload.
Zudem stand das mögliche Aus der Gastprofessur damals bereits im Raum. Daniel Loick setzte uns in einer der Veranstaltungen darüber in Kenntnis. Ein Raunen machte sich breit – und absolutes Unverständnis: Wie kann ein Angebot, das so sehr unseren Bedürfnissen entspricht, einfach abgeschafft werden? Wer entscheidet darüber? Und wie zum Teufel lässt sich ein derartiger Einschnitt in unser aller Lebensrealität verhindern? Viele von uns hatten erstmals das Gefühl, für einen Augenblick selbstbestimmt studieren zu können. Dieses neu errungene Gefühl wegen etwaiger institutioneller Logiken wieder zu verlieren, fühlte sich damals ziemlich bedrohlich an.
In diesem Kontext fiel folgender Satz: »Vielleicht wäre das anders, wenn alle von Ihnen mal eine Mail an das Dekanat schreiben würden.« Wir könnten doch kurzerhand das Dekanat darüber in Kenntnis setzen, wie viel uns an der Gastprofessur liegt. Wie gesagt, so getan. Ich formulierte einen Entwurf und postete diesen in alle Online-Foren der Kurse. Mehrere Dutzend Nachrichten erreichten das Dekanat, das nicht so recht wusste, wohin damit. Der damalige Dekan kam daraufhin sogar selbst in die Veranstaltungen, um sich die Belange der Studierenden anzuhören, deren Forderung ganz klar der langfristige Erhalt der Professur war. Was stattdessen geschah, war eine bloße Aufstockung meiner Stelle auf das ganze Semester (was eigentlich von Anfang an hätte selbstverständlich sein müssen). Die E-Mail-Aktion war nichtsdestotrotz ein kleiner Erfolg. Es formierte sich sogar noch eine kleine Gruppe an Studierenden, die weiter an dem Erhalt der Professur dranbleiben wollte – »Beziehungsweise Kritik« nannten sie sich. Schon beträchtlich, was sich an Organisierung und den damit einhergehenden Selbstwirksamkeitserfahrungen für Studierende rund um die Gastprofessur formierte.
Kritik mit großem »K«
Einige Jahre später, im Jahre 2018/2019 hatte Karin Stögner die Gastprofessur inne, diesmal mit Fokus auf Kritischer Theorie (mit großem »K«), besonders der ersten Generation der Frankfurter Schule. Eine ganz andere inhaltliche Ausrichtung, doch genau das war das Spannende: Über die Jahre hinweg hatte die Vielfältigkeit der Entwicklungsstränge und auch die Interdisziplinarität Frankfurter Traditionslinien im Rahmen der Gastprofessur ihren – wenn auch prekären – Platz an der Universität. Auch hier natürlich wieder überfüllte Seminare, wenn auch nicht ganz so drastisch. Karin Stögner nahm die Anmeldung zu den Seminaren etwas ernster und das aus gutem Grund: Inhaltlich lässt sich mit dermaßen überfüllten Seminaren nur schwer arbeiten. Warum sich auch die ganze Arbeit, die an eine bloß spärlich ausgestattete Gastprofessur ausgelagert wird, aufhalsen lassen?
Wie dem auch sei: Der Andrang war wieder enorm, denn – man kann es kaum glauben – es war für viele die erste Gelegenheit, sich in Frankfurt intensiv und nicht bloß am Rande mit den Texten der ersten Generation der Frankfurter Schule zu befassen. Doch nicht nur Adorno, Horkheimer und Ideologiekritik waren hier Thema, der Brückenschlag zu aktuellen Themen, wie Kritik des Nationalismus und Antisemitismus, waren inhaltlich zentral. Gekrönt wurde jenes Jahr der Gastprofessur durch die Tagung »Kritische Theorie und Feminismus«. Noch heute existieren die sozialen Kontexte, die sich hier zusammenfanden, fort. Ohne die Gastprofessur hätte es sie in dieser Form nicht gegeben, dafür lege ich meine Hand ins Feuer.
Auf Karin Stögner folgte noch Frieder Vogelmann, dann bloß das Ende der Gastprofessur. Beinahe lautlos schlich es sich ein, plötzlich gab es sie ab 2020 nicht mehr – keine Begründung, kein großes Trara. Es ging beinahe spurlos im pandemischen »Alltag« an der Universität unter, dass nun ein Angebot nicht mehr existierte, das für viele Studierende wichtige Impulse zu einer Erstpolitisierung lieferte, sich aber vor allem dadurch ausgezeichnet hatte, die vielfältigen Traditionslinien Frankfurter Theoriebildung jungen Studierenden näher zu bringen.
Es ist eine ziemlich laute Stille, die sich seitdem am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität breit macht. Mit kritischer Theorie (ob mit großem oder kleinem »K«) lässt sich an einer Stiftungsuniversität nun mal kein Blumentopf gewinnen. Die Unterfinanzierung und das Unterangebot an kritischen Lehrveranstaltungen sind und bleiben jedoch frustrierend, gerade für Menschen, die eigentlich der kritischen Theoriebildung wegen nach Frankfurt kamen und noch immer kommen. Manchmal entsteht beinahe der Eindruck, als wolle die Goethe-Universität genau diese Studierenden nicht haben und sie erst recht nicht weiter mit kritischen Inhalten füttern. Am Ende schreiben sie einem vielleicht unangenehme E-Mails, besetzen Hörsäle oder schleichen sich gar in Senatssitzungen ein, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen!
Für die kritische Persönlichkeit
Dies klang vor über 70 Jahren noch ganz anders. Max Horkheimer richtete im Jahre 1952 – während seiner Amtszeit als Rektor der Goethe-Universität – folgende Worte an die Studierenden: »Wir wünschen uns vor allem, daß Sie den kompromißlosen Willen zur Mitarbeit an einer besseren Einrichtung der Welt nicht … schmälern lassen«. Ist das Aufbegehren der Studierenden insofern nicht ein Impuls, den man fördern sollte? Wem genau werden die Folgen einer kapitalistischen Wirtschaftsweise in Zukunft wortwörtlich Feuer unterm Hintern machen, wenn nicht jungen Menschen? Braucht es da vielleicht nicht bloß Visionär*innen der immer effizienteren Naturbeherrschung und Kapitalverwertung, sondern auch Menschen, die sich weiterhin kritisch mit sozialen Missständen befassen wollen? Solche, die ihre Zeit und Kraft einsetzen, um diese Fragen herum Freund*innen- und Genoss*innenschaften zu formieren, die gemeinsam nach Ausdrucksformen für kritische Impulse suchen und damit verändernd in die Gesellschaft hineinwirken wollen?
Gesellschaftskritik braucht Räume, Zeit und finanzielle Ausstattung. Die Gastprofessur am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften wieder zu verstetigen, wäre ein erster Schritt, das Erbe der Kritischen Theorie an der Goethe-Universität Frankfurt ernst zu nehmen. Sie ist nicht bloß als musealisierte Verknöcherung ihrer selbst, sondern als lebendige Tradition zu erhalten.
Dieser Beitrag erschien außerdem in dem Reader »Marx an die Uni! Widersprüche studentisch organisierter Lehre« anlässlich der diesjährigen Wiederbesetzung der Gastprofessur für kritische Gesellschaftstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt. Herausgegeben wurde der Band vom AK Kritische Gesellschaftstheorie, der Fachschaft des Fachbereichs Gesellschaftswissenschaften und dem AStA der Goethe-Universität. Er ist online zu finden unter https://www.ifs.uni-frankfurt.de/newsleser/marx-an-die-uni.html.
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