Ukraine-Krieg: »Bachmut war die Hölle auf Erden«

Andrij war als ukrainischer Soldat an der Front und wurde abgezogen, weil er schwer traumatisiert ist

  • Paul Gäbler, Odessa
  • Lesedauer: 8 Min.
Andrij hat nach seinem Fronteinsatz Albträume. In einer Klinik in Odessa lernt er nach einem Jahr in der ukrainischen Armee, wieder durchzuschlafen.
Andrij hat nach seinem Fronteinsatz Albträume. In einer Klinik in Odessa lernt er nach einem Jahr in der ukrainischen Armee, wieder durchzuschlafen.

Die Albträume wurden immer schlimmer. Jede Nacht, wenn Andrij die Augen zumachte, musste er mit ansehen, wie um ihn herum alle umfielen. Nur er blieb stehen, während es überall krachte und zischte. Immer wieder hörte er die gleichen Schreie, die gleiche Panik in ihren Stimmen.

Angst zu haben, daran war Andrij inzwischen gewöhnt. Die Angst um sich, um seine Kameraden, um seine Familie zu Hause in Lwiw, die er vor mehr als einem Jahr zurücklassen musste, als Russland in die Ukraine einfiel und er der Armee beitrat. Irgendwann hatte Andrij sogar Angst vorm Einschlafen. Da merkte er, dass es nicht mehr weiterging.

Er sprach seinen Vorgesetzten an. »Es geht mir nicht gut«, sagte er. Er höre Stimmen, schlafe schlecht. Außerdem habe er immer wieder Momente, in denen ihm zittrig werde, sein Atem schneller gehe und er das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. Was man denn da tun könne?

Sein Vorgesetzter habe ihn lange angeschaut, nicht zweifelnd, eher mitfühlend. Das klinge nicht gut, habe er gesagt und ihn an einen Militärarzt verwiesen. Der untersuchte und befragte ihn. Andrij zeige klassische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS): Panikattacken, Depressionen, Halluzinationen. Schließlich musste er die Infanterie verlassen und sich in Behandlung begeben.

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Jetzt sitzt Andrij in grünem Militärshirt und violetten Shorts im Innenhof eines Krankenhausflügels der städtischen Klinik von Odessa in der Sonne. Die psychiatrische Abteilung liegt ein wenig abseits, abgeschirmt von der Außenwelt sollen die Erkrankten hier zur Ruhe kommen. Auf dem Boden liegen zwei Hunde, einige Patienten gärtnern und setzen Pflanzen in die Erde.

Andrij läuft hinüber zur Sportecke des Innenhofes, wo einige Fitnessgeräte stehen. »Sport ist bisher das, was mir am besten tut«, erzählt er und macht wie zum Beweis ein paar Klimmzüge. Es ist der erste von drei Monaten Therapie, die er hier verbringen wird. Danach will er wieder in den Militärdienst zurückkehren, wenn auch nicht mehr im direkten Fronteinsatz. »Vielleicht etwas im Büro, vielleicht auch nur in der Logistik. Einen Lkw fahren kann ich ja noch«, sagt Andrij und lächelt. In diesem Moment sieht man, dass er tatsächlich erst Anfang 50 ist. Sein Gesicht hat so viele Falten, dass man ihn zunächst für viel älter hält.

Ein paar Flure weiter beugt sich Kornelia Kosenko, Chefärztin der psychiatrischen Abteilung, in ihrem roten Ledersessel nach vorne und blickt auf den Computerbildschirm in Andrijs digitale Krankenakte: ein Jahr Fronteinsatz, zum Ende vier Monate in Bachmut. Die ostukrainische Stadt ist zum Inbegriff für die Grausamkeit in diesem brutalen Krieg geworden. Von Mai 2022 bis zum Mai dieses Jahres war sie Schauplatz eines erbittert geführten Stellungskrieges. Sie wurde dabei nahezu völlig zerstört. US-amerikanische Geheimdienste schätzen die Zahl der auf russischer Seite in und bei Bachmut Getöteten auf mehr als 20 000. In etwa so viele Menschen dürften auch auf ukrainischer Seite gefallen sein.

Jahrhundertelang unbehandeltes Leid

Dass Soldaten mit psychischen Schäden von der Front nach Hause kommen, ist ein seit Jahrtausenden beobachtetes Phänomen. Schon im antiken Mesopotamien fragten sich die Geschichtsschreiber, ob ihre zurückkehrenden Soldaten von bösen Geistern besessen seien. Herodot beschrieb nach der Schlacht von Marathon im Jahr 490 v. Chr. Fälle von Erblindungen der Überlebenden. Nach dem Ersten Weltkrieg, dem ersten »industriell« mit modernen Massenvernichtungswaffen geführten Krieg der Menschheitsgeschichte, wurde das Phänomen der »Kriegszitterer« aktenkundig, was später als »Kriegsneurose«, »Old sergeant’s syndrome« oder auch »Post Vietnam Syndrome« bekannt wurde. Die Symptome waren nahezu identisch: Panikattacken, Halluzinationen, Depressionen sowie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Heutzutage gibt es in der Psychiatrie einen Konsens: All diese Symptome gehen auf eine Traumatisierung und einen erlebten Kontrollverlust zurück. Sie werden unter dem Krankheitsbild der PTBS zusammengefasst. Bleibt die Erkrankung unbehandelt, können teilweise nach mehreren Jahren Flashbacks auftreten. Gut und böse, schwarz und weiß: Im Krieg sind die Dinge klar geregelt. Umso schwieriger ist es, sich anschließend im Alltag mit all seinen Graustufen wieder zurechtzufinden.

Aktuell schätzt das ukrainische Gesundheitsministerium, dass nach dem Krieg vier Millionen Menschen wegen der von ihnen erlittenen Traumata psychologische Behandlung benötigen werden. Andere Experten gehen sogar von bis zu zehn Millionen aus. Zum Vergleich: In den vergangenen Kriegen der US-Amerikaner in Afghanistan und dem Irak, die vorwiegend in gepanzerten Wagen oder vor dem Computer geführt wurden, kehrten 17 Prozent der Soldatinnen und Soldaten traumatisiert zurück. Der Anteil dürfte in diesem Krieg noch einmal deutlich größer sein.

»Andrij ist ein Fall von schwerer PTBS – also jemand, bei dem ich aus ärztlicher Sicht sagen muss, dass er nie wieder eine Waffe in die Hand nehmen darf«, sagt Kosenko. Andere weniger schwere Fälle könnten manchmal nach wenigen Wochen Behandlung wieder in den Einsatz zurück – wenn sie es denn wollen.

Wieder durchschlafen lernen

Bei Andrij wollen die Ärzte zunächst schauen, wie die Psychopharmaka und Antidepressiva anschlagen und ob die Symptome zurückgehen. Das Wichtigste sei für ihn zunächst, wieder selbstständig durchschlafen zu können und Entspannungstechniken zu erlernen, erklärt Kosenko. Soldaten wie er, die nahezu ohne Pause im Einsatz waren, dazu noch in der Infanterie, seien monatelangem Dauerstress ausgesetzt gewesen. Weil Menschen eben nicht dazu geschaffen sind, einander umzubringen, löse das kognitive Dissonanzen aus. Das Hirn tue Dinge, die sich eigentlich logisch widersprechen – ein psychischer Schutzmechanismus. »Ansonsten stumpft man mental irgendwann völlig ab.«

Kosenko läuft über die gedämpft beleuchteten Klinikflure. In den engen Zimmern stehen bis zu acht Betten dicht beieinander. Darin liegen Männer aller Altersgruppen mit Militärhaarschnitt und blassen Gesichtern, die auf ihre Handys starren. Die Abteilung sei nahezu ausgebucht. »Aktuell haben wir sieben Soldaten in Behandlung«, erzählt die Ärztin. Auch die Zivilbevölkerung leide unter dem Krieg. Wer nächtelang kein Auge zubekomme, weil er Angst vor Luftangriffen hat, habe ebenfalls ein hohes Risiko, an einer PTBS zu erkranken.

Suchtprobleme

Die Medizinerin berichtet von einem weiteren Problem: einem stark gestiegenen Drogenmissbrauch, beispielsweise von Cannabis. Viele Soldaten konsumieren an der Front auch Amphetamin, um die körperlichen und seelischen Belastungen auszuhalten. »Zum Glück führen wir als Gesellschaft die Debatte darüber offen«, sagt Kosenko. »Sowohl das Militär als auch die Politik haben die Sache auf dem Schirm und schweigen das nicht tot.« Noch vor wenigen Jahren wäre das wohl anders gewesen, da wären die psychischen Langzeitfolgen von Kriegseinsätzen kaum ein Thema gewesen.

Andrij hat lange überlegt, ob er schon so weit ist, um über das Erlebte zu sprechen. Über Details möchte er nicht reden. Nur so viel: »Nichts war so schlimm wie Bachmut. Das war die Hölle auf Erden.« Wie viele Kameraden er dort verloren habe, wisse er nicht. Aber: »Es waren auch vier enge Freunde dabei.« Beim Reden knetet er die Hände, seine Beine wippen hin und her, er atmet schwer.

Aufgewachsen ist er in Lwiw im Westen des Landes, wo vor allem Ukrainisch gesprochen wird. Russisch kann er natürlich ebenfalls, auch wenn er die Sprache des Gegners nicht mehr sprechen will. »Ich habe meiner Familie schon seit Jahren prophezeit, dass Russland nicht aufhören wird, unser Land anzugreifen.« Ihm gehörten drei Bars in Lwiw, in denen Kaffee und Kuchen verkauft wurde. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, gab er sein Geschäft auf und meldete sich freiwillig für den Fronteinsatz. Militärerfahrung hatte er nicht.

Sieg als einzige Option

Wenn Andrij über ein Ende des Krieges spricht, redet er ausschließlich vom Sieg der Ukraine. Ein anderes Szenario kann er sich offenbar nicht vorstellen. »Wenn der Westen uns weiterhin unterstützt, können wir das schaffen«, sagt er. »Wir wollen kein russischer Vasallenstaat mit Unterdrückung und Zensur sein. Also, bitte bleibt solidarisch mit uns«, sagt Andrij. »Sonst war das alles hier umsonst.« Davor habe er am meisten Angst.

Andrij bleibt vor einer bunten Wand im Innenhof stehen. Motive von Häusern und Blumen, Tieren und Menschen, die friedlich zusammenleben. Sie sehen aus wie Kinderzeichnungen. Er hat sie mit seinen Kameraden gemalt, eine therapeutische Maßnahme neben der medikamentösen und sprachtherapeutischen Behandlung. Hinter der Wand beginnt die echte Welt.

Wenn der Krieg vorbei ist, will er wieder ein Geschäft eröffnen. »Vielleicht nicht unbedingt wieder was mit Kaffee und Kuchen. Obwohl – warum eigentlich nicht? Guten Kaffee kann man ja eigentlich immer gebrauchen«, sagt er.

Drei Monate später, im Oktober, ist es noch immer ungewöhnlich warm in der ukrainischen Hafenstadt. 30 Grad zeigt das Thermometer. Kornelia Kosenko berichtet am Telefon, dass Andrij große Fortschritte gemacht habe: »Seine Angstzustände sind beinahe verschwunden, und er schläft auch wieder regelmäßig durch. Vor einem Monat haben wir ihn aus der geschlossenen Einrichtung entlassen können und an ein Sanatorium vermittelt.«

Der 50-Jährige werde weiter ambulant von einem Psychologen betreut. Sollte die Heilung in dem Tempo weitergehen, könnte er sogar wieder in den Armeedienst zurückkehren – mit gewissen Einschränkungen natürlich, sagt seine Ärztin. »Er wird keinen Dienst an der Waffe tun, das ist ihm ausdrücklich untersagt, und das hat er auch akzeptiert. Wenn es gut geht, wird er für die Logistik im Hinterland von Lwiw eingesetzt. Dann wäre er auch wieder näher an seiner Familie.« Denn das sei es, was ihren Patienten am meisten guttun würde: ein Gefühl der Normalität und Geborgenheit – und die Hoffnung, dass eine bessere Welt wieder möglich ist.

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