- Politik
- Ukraine
Oleksij Arestowytsch: Der Psychotherapeut der Nation ist zurück
Der ukrainische Ex-Regierungsberater Oleksij Arestowytsch will Präsident werden und verärgert damit Kiew
Elf Monate lang war Oleksij Arestowytsch eines der bekanntesten Gesichter der Ukraine. Täglich analysierte der Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj nach dem Angriff Russlands im Februar 2022 das Kriegsgeschehen und sprach damit auch viele Menschen in Russland an. Denn trotz aller Kritik ukrainischer Nationalisten spricht der 48-Jährige immer noch Russisch. Und mit dem, was er sagte, eckte er immer wieder an, lag aber auch oft richtig. Journalisten bezeichneten ihn deshalb als Psychotherapeuten der Nation.
Im Januar zog sich Arestowytsch unerwartet zurück, nachdem er nach einem russischen Raketenangriff auf Dnipro darauf hinwies, die Rakete sei durch die ukrainische Flugabwehr in ein Wohnhaus gelenkt worden, wobei 45 Menschen ums Leben kamen. Eine Meinung, die Politik und Öffentlichkeit nicht genehm war.
Seit einigen Tagen ist Arestowytsch wieder in aller Munde, nachdem er auf Telegram einen 14-Punkte-Plan für seine Präsidentschaft verkündete. »Ja, ich werde antreten«, sagte Arestowytsch der Nachrichtenagentur Interfax-Ukraina und bezeichnete den veröffentlichten Plan als Vorwahlprogramm, das noch verfeinert wird. Im Interview mit dem russischen Exil-Medium »Meduza« forderte er zudem ein Ende der »Verfolgung wegen russischer Sprache«. Die Ukraine könne aktuell nicht als frei bezeichnet werden, so Arestowytsch. Bereits Mitte Oktober schrieb der 48-Jährige von einer Sackgasse, in der sich der Krieg befindet, weshalb »die Ukrainer unbedingt die aktuelle politische Führung austauschen und neue Wahlen abhalten müssen«. In seinem Wahl-Plan greift Arestowytsch auch die militärische Führung an, die menschenfreundlicher werden muss.
Teller und Rand ist der nd.Podcast zu internationaler Politik. Andreas Krämer und Rob Wessel servieren jeden Monat aktuelle politische Ereignisse aus der ganzen Welt und tischen dabei auf, was sich abseits der medialen Aufmerksamkeit abspielt. Links, kritisch, antikolonialistisch.
Arestowytsch bringt Verhandlungen mit Russland ins Spiel
Auf Telegram gab Arestowytsch zu, die Menschen in der Ukraine angelogen zu haben, als er einen schnellen Sieg gegen die russischen Invasoren voraussagte: »Die Wahrheit ist, dass ein großer Teil der Verantwortung für den Glauben des einfachen Bürgers an unseren schnellen Sieg bei mir persönlich liegt. Ich habe die Illusion geschaffen, damit wir überleben. Heute zerstöre ich sie, damit wir weiter überleben«. Der Regierung Selenskyj warf er vor, mit ihrer Politik die Nato-Mitgliedschaft zu gefährden und brachte ein neues Minsker Abkommen ins Spiel. Die okkupierten Gebiete können nur auf politischem Wege zurückgewonnen werden, heißt es im Wahl-Plan. Allein der Gedanke an mögliche Verhandlungen mit dem Kriegsgegner Russland hatte am Wochenende viele empörte Reaktionen in sozialen Medien hervorgerufen.
Mit seiner angekündigten Kandidatur hat Arestowytsch das politische Kiew brüskiert. Lange Zeit war unklar, ob während des Kriegszustands überhaupt gewählt wird. Das sei eine »abenteuerliche Idee, die das Land unter den aktuellen Bedingungen gar nicht braucht«, hatte der Rada-Abgeordnete Oleksij Hontscharenko dem Urnengang zuletzt noch eine Absage erteilt. Am Montag ordnete Selenskyj laut Hontscharenko trotzdem die Wahl für den 31. März 2024 an, den letztmöglichen Tag. Am Abend sprach sich Selenskyj in seiner täglichen Videoansprache jedoch gegen die Wahl aus.
Kiew startet Diskreditierungskampagne
Mit wessen Unterstützung Arestowytsch zur Präsidentschaftswahl antreten will, kann er noch nicht einmal selbst sagen. Die Schlammschlacht aber ist bereits eröffnet. Arestowytsch warf der Regierung vor, weit über den politischen Rahmen hinauszugehen und ihn abgehört zu haben, ohne jedoch dafür Beweise vorzulegen. Die reagierte darauf mit Diskreditierungsversuchen. Seit Tagen berichten ukrainische Medien über Gerüchte, Arestowytsch sei ein Agent des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, der die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine aufwiegeln und das Land von innen schwächen soll. Oder aber Selenskyj habe seinen ehemaligen Berater als Sparringspartner aufgestellt, um bei der Wahl besser dazustehen. Im Interview mit dem Portal »Liga« erklärte der Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine Oleksij Danilow lediglich, den Ex-Berater durch den Inlandsgeheimdienst SBU überwachen zu lassen.
Für die ukrainische Regierung kommt die Causa Arestowytsch zur Unzeit. Die Aufmerksamkeit der Welt gilt dem Nahen Osten, Kiew muss härter als zuvor um westliche Waffen- und Finanzhilfe kämpfen. Zudem zeichnen US-Medien kein gutes Bild von der Lage der Ukraine im Krieg. Ende Oktober schrieb das »Time«-Magazine, dass längst nicht mehr jeder in Kiew vom Sieg überzeugt ist und Selenskyj glaubt, der Westen hätte ihn verraten. Am 1. November gestand der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, im Interview mit dem »Economist« ein, dass die Situation an der Front festgefahren sei und die Gegenoffensive faktisch gescheitert ist. NBC News schrieb zudem, die USA und die EU hätten mit Kiew Gespräche aufgenommen, die zu Friedensverhandlungen mit Moskau führen sollen. Selenskyj hat alle Berichte zurückgewiesen.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.