Stichwahl in die Sackgasse

Wenn Argentinien am 19. November einen neuen Präsidenten wählt, ist nicht mit einem Aufbruch zu rechnen

  • Malte Seiwerth, San Miguel de Tucumán
  • Lesedauer: 8 Min.
Die Armut ist in Argentinien sichtbar geworden: Ein Straßenverkäufer bietet nur wenige Waren an.
Die Armut ist in Argentinien sichtbar geworden: Ein Straßenverkäufer bietet nur wenige Waren an.

Lange Schlangen bilden sich vor den wenigen Tankstellen, die noch Benzin haben. In der Provinzhauptstadt San Miguel de Tucumán ist die Stimmung aufgeladen. Seit Ende Oktober ist hier das Benzin knapp geworden. Fernando Bravo steht mit seinem Motorradtaxi zum wiederholten Male in einer Schlange und wartet, seine Arbeit ist vom Benzin abhängig.

In der Druckerei Chilavert in Buenos Aires gibt es keine Ersatzteile für die Druckmaschine aus Heidelberg.
In der Druckerei Chilavert in Buenos Aires gibt es keine Ersatzteile für die Druckmaschine aus Heidelberg.

Während die Ölgesellschaften von Versorgungsproblemen aufgrund unerwartet hoher Nachfrage sprechen, behaupten Regierungskreise, die Unternehmen horteten den kostbaren Sprit und setzten auf steigende Preise. Für Bravo ist dagegen klar, der Benzinmangel zeige einmal mehr die Unfähigkeit der Regierung. »Ich hoffe, Milei gewinnt in der Stichwahl.« Er wünscht sich einen Heilsbringer.

Argentinien steht am 19. November vor der Wahl: rechtslibertärer Neustart oder weiter so? Im ersten Wahlgang am 22. Oktober hatten der rechtsradikale und ultraliberale Javier Milei und der derzeitige Wirtschaftsminister Sergio Massa von der Partei Frente Renovador die meisten Stimmen bekommen und die zweite Wahlrunde erreicht. Für linke Kreise dagegen gibt es wenig Hoffnung auf einen Wandel und ein Ende der Wirtschaftskrise.

Das Leben in Argentinien ist für viele Menschen prekär geworden. Auch viele Betriebe stehen vor enormen Schwierigkeiten. In der genossenschaftlichen Druckerei Chilavert in der Hauptstadt Buenos Aires zeigt Placido Peñarrieto die riesigen Maschinen. Der Mann mit Karl-Marx-Frisur wirkt stolz, wenn auch ein bisschen melancholisch, während seine Genossen eine mehr als 60 Jahre alte Druckmaschine aus Heidelberg reparieren. Er blickt auf eine Papierguillotine, die ebenfalls aus Heidelberg stammt, und sagt: »Diese ist leider kaputt, und wegen der Krise können wir die Ersatzteile nicht aus Deutschland importieren.«

Seit nunmehr fast fünf Jahren steigt in Argentinien die Inflation rasant. Mittlerweile liegt sie bei über 12 Prozent im Monat, innerhalb eines Jahres steigen die Preise auf mehr als das Doppelte. Die Löhne, einst zählten sie zu den höchsten in ganz Lateinamerika, liegen heute gerade einmal bei 300 Euro für medizinisches Personal im öffentlichen Dienst oder 160 Euro Mindestlohn. Der hohe Wert des Dollars verkompliziert Importe und lässt die Preise fast täglich in die Höhe schnellen. Fast die Hälfte der Bevölkerung lebt mittlerweile unterhalb der Armutsgrenze.

»Es ist nicht die erste Krise, die ich erlebe«, sagt Peñarrieto. Er hat bereits den wirtschaftlichen Einbruch Anfang der 80er Jahre im gleichen Unternehmen miterlebt. Und 2001, als Argentinien ein weiteres Mal in eine Hyperinflation rutschte, entschieden sich die Arbeiter der Druckerei – allesamt Männer –, das Unternehmen zu übernehmen. Damals wollte ihr Chef nach mehreren Jahren voller Auftragsbücher Insolvenz anmelden. Sie besetzten daraufhin kurzerhand die Druckerei, verhinderten den Abtransport der Maschinen und drucken seitdem in Eigenregie. Ihr erstes Buch handelte von Basisversammlungen, deren Organisationsform und politischer Tragweite. »Wir hatten keine Lust mehr darauf, dass der Besitzer die Profite einstrich, uns aber an den Verlusten beteiligte«, erklärt Peñarrieto. »Hätten wir das nicht gemacht, wären wir auf der Straße gelandet.« Damals wurden Tausende arbeitslos, verloren ihre Wohnungen und begannen, Verwertbares im Müll der wohlhabenden Viertel zu suchen.

Viele Arbeiter*innen folgten 2001 dem Beispiel der Druckerei Chilavert. In ganz Argentinien übernahmen Beschäftigte von Werkstätten und Fabriken ihre Arbeitsplätze und führten sie als Genossenschaften fort. Die Regierung unter Nestór Kirchner (2003–2007) und später die seiner Ehefrau Cristina Fernández (2007–2015) unterstützen teilweise die Genossenschaften und tolerierten oft die ungeklärten Besitzverhältnisse.

Doch viele Betriebe bewegen sich heute am Rand des Existenzminimums. Auch die Druckerei Chilavert. »Wir erwirtschaften derzeit genügend, um in etwa den Mindestlohn zu erreichen«, sagt Peñarrieto. Für Investitionen in neue Maschinen fehle schlichtweg das Geld. Kredite für die Genossenschaften gebe es meist nicht. Peñarrieto glaubt nicht, dass sich diese Situation in der nächsten Zeit ändern wird. Auch politisch ist die genossenschaftliche Bewegung in Argentinien derzeit schwach und kann kaum Impulse setzen.

Unter dem Wirtschaftsminister Sergio Massa habe die progressive Linke keinen Raum, meint auch der Politikwissenschaftler Diego Genoud am Telefon. Massa ging mit knapp 37 Prozent der Stimmen als Favorit aus der ersten Wahlrunde hervor. Er gilt als Opportunist. Einst arbeitete er mit dem ehemaligen rechten Präsidenten Mauricio Macri zusammen, was ihm im aktuellen peronistischen Mitte-links-Regierungsbündnis viel Kritik einbrachte.

Im August 2022 übernahm er ein gestärktes Wirtschafts- und Finanzministerium und versprach, die Inflation in den Griff zu bekommen. Das ist ihm aber nicht gelungen. Vielmehr geschah das Gegenteil: Die Inflation stieg immer weiter. »An diese Ankündigung erinnert sich in Argentinien kaum wer«, meint Genoud. »Massa hat es erfolgreich geschafft, seine Person und Präsidentschaftskandidatur von der politischen Verwaltung der Krise loszulösen. Als ob er nichts mit der Realität zu tun hätte.«

Dabei ist unklar, was Massa überhaupt vorhat und wofür er steht. Sein Programm ist undurchsichtig. »Massa ist unberechenbar«, meint Genoud. Er ändere häufiger seine Meinung. Seit er Wirtschaftsminister ist, werde er kaum kritisiert. »Man hat ihm alles vergeben, sogar die steigende Armut und die Inflation.« Das liege auch daran, erläutert Genoud, dass er schnell als einziger Präsidentschaftskandidat mit Erfolgschancen gegenüber einer erstarkten Rechten galt. »Der progressive Teil der Regierungskoalition hat sich in Anhänger von Massa verwandelt.«

Auf der Gegenseite steht Javier Milei, der mit knapp 30 Prozent der Stimmen die Stichwahl erreichte. Die traditionelle Rechte mit ihrer Präsidentschaftskandidatin Patricia Bullrich stellte er ins Abseits. Sein politisches Programm ist extrem neoliberal und gleichzeitig erzkonservativ. Während Milei mit einer Motorsäge in der Hand verspricht, den Staat auf ein Minimum zusammenzustutzen, denkt er laut über die Privatisierung von Bürgersteigen und die Legalisierung des Organhandels nach. Das Recht auf Abtreibung will er wieder verbieten und die gleichgeschlechtliche Ehe abschaffen.

Sein brisantestes Vorhaben aber ist die Einführung des Dollars als offizielle argentinische Währung. Noch kurz vor der Wahl behauptete Milei, nur wenige Prozentpunkte von einem Wahlsieg in der ersten Runde entfernt zu sein. Das Ergebnis lag dann weit hinter seinen Erwartungen. Genoud meint, womöglich habe Milei sein Potenzial bereits ausgeschöpft. »Für viele Menschen sind seine politischen Forderungen anscheinend zu gefährlich, als dass sie ihn wirklich wählen würden.«

Der Genossenschafter Peñarrieto sagt, er habe längst schon seine Entscheidung bei der Wahl getroffen. Er versteht nicht, warum Menschen aus der Arbeiterklasse Milei wählten, weil sie ja schließlich von einem sozialen Staat profitierten. Das seien »Menschen, die kostenlos auf der öffentlichen Universität studieren konnten, heute einen Titel haben und sagen, alles müsse privatisiert werden.« Auch in seiner Familie gebe es unterschiedliche Meinungen zu Milei und Konflikte darüber. Dann erinnert er manchmal daran, als der rechte Mauricio Macri im Jahr 2015 Präsident wurde. »Alle Taxifahrer in meiner Umgebung jubelten, zwei Jahre später waren sie bankrott, und ihre Autos standen kaputt am Straßenrand.«

Im Gegensatz zu ihren offiziellen Verlautbarungen hat die traditionelle Rechte in ihrer kurzen Regierungsphase von Macri von 2015 bis 2019 wenig unternommen, um kleinere Unternehmen zu fördern. In den vier Jahren mussten laut offiziellen Zahlen 24 537 kleine und mittlere Unternehmen schließen. Die Inflation verdoppelte sich, und 35 Prozent der Bevölkerung rutschte unter die Armutsgrenze.

Der rechtslibertäre Milei stellt sich gerne als Alternative zu Macri und der derzeitigen peronistischen Regierung dar. Als Außenseiter trete er gegen die »politische Kaste« und deren Korruption an, sagt er. Auch gegen die rechte Präsidentschaftskandidatin Bullrich wetterte er noch vor der ersten Wahlrunde. Aber drei Tage nach der Stimmabgabe schlossen sich die beiden in die Arme. Milei braucht schließlich die Stimmen der traditionellen Rechten, um die Stichwahl zu gewinnen. Sollte er Präsident werden, bräuchte er auch die Regierungserfahrung von Macri. Der Politikwissenschaftler Genoud erinnert daran, dass diese Zusammenarbeit nicht neu ist: »Bevor Milei Präsidentschaftskandidat war, wollte Bullrich Milei in ihr Team aufnehmen.« Milei habe seit Jahren gute Beziehungen sowohl zu Bullrich als auch auch zu Macri.

Doch nicht alle rechten Kräfte sind von Milei überzeugt. Nachdem Macri und Bullrich nach der ersten Wahlrunde den Schulterschluss mit Milei übten, weigerten sich mehrere einflussreiche rechte Politker*innen, Milei zu unterstützen. Der Regierungschef der Stadt Buenos Aires, Horacio Larreta, sagte etwa: »Ich werde nicht in die Falle tappen, die mich dazu verpflichtet, zwischen zwei katastrophalen Optionen eine auszuwählen.«

An der Tankstelle in San Miguel de Tucumán wartet neben dem Motorradtaxifahrer Bravo auch Paola, die nur ihren Vornamen nennen will, seit einer Stunde in einem leicht rostigen Kleinwagen auf Benzin. Sie müsse bald ihre Tochter von der Grundschule abholen, sagt sie und beginnt sofort über die politische Lage zu sprechen. Die Regierung kontrolliere die wirtschaftlichen Eliten viel zu wenig. »Das hier ist Spekulation«, meint sie zur Benzinknappheit. »Die wird es auch weiter geben, wenn die Regeln nicht verschärft werden.« Sie hofft, dass die Menschen wohlüberlegt ihre Stimme abgeben. »Ich habe Angst vor Milei und seinen politischen Grundsätzen«, erklärt sie abschließend.

Egal, wer am 19. November als Wahlsieger hervorgeht, die Arbeiter*innen werden verlieren, meint der Politikwissenschaftler Genoud. Er erwarte einen weiteren Wertverfall des Pesos und ein wirtschaftlich schwieriges Jahr. Danach könnte die Lage besser werden. Die Hoffnung liegt dabei auf dem großen Erdgas- und Ölfeld Vaca Muerta im Süden des Landes und dem Lithium-Abbau im Norden.

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