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Tat und Rat
Es wird wieder von den Räten geredet – aber sie waren historisch nicht als politische Ergänzung gedacht, sondern als Organe der Befreiung
Von Räten ist in diesen Tagen wieder viel die Rede – von Bürger*innenräten, Klimaräten, Gesellschaftsräten, von Organen also, die innerhalb des bestehenden Systems Möglichkeiten radikaldemokratischer Mitbestimmung eröffnen sollen. Mit der Geschichte der Rätebewegung hat das nichts zu tun. Denn die Rätebewegung vor 100 Jahren war nichts anderes als politischer Ausdruck der Klassenkämpfe. Sie waren nicht gedacht als Ergänzung bestehender Institutionen oder als eine Art proletarisches Parallelsystem zur bürgerlichen Herrschaft. »Die ganze Bedeutung und die Stärke des Sowjets liegen nicht in einer besonderen Struktur, sondern sind darauf zurückzuführen, das Organ einer Klasse zu sein, die die Führung der gesellschaftlichen Verwaltung für sich allein beansprucht«, brachte bereits 1918 Amadeo Bordiga, (Mit-)Gründer der kommunistischen Partei in Italien die Diskussion um die Räte zum Punkt, oder vielleicht besser: zum Abschluss. Denn es soll von Räten schweigen, wer nicht vom Klassenkampf reden mag.
Diesen vorausgesetzt, lohnt sich aber durchaus der genauere Blick auf Geschichte und Theorie der Rätebewegung, kommen doch in den Räten »Organisation« und »Utopie« zu sich selbst, verschmelzen zu einer politischen Form, die etwas grundsätzlich anderes sein soll als der bürgerliche Staat. Aber was genau?
Der Beginn der Rätetheorie folgte auf die Pariser Kommune, den revolutionären Pariser Stadtrat, mit dem sich die Pariser*innen vom 18. März 1871 an zwei Monate selbst regierten. Marx jubelte, die Kommune sei »die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. Denn: »Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andere zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen.« Marx’ Analyse trug Züge der Überhöhung wie der Fehleinschätzung; er hoffte, mit der Kommune könnte ein neuer Zyklus anfangen, »der Beginn der sozialen Revolution des 19. Jahrhunderts«. Aber es war kein Beginn – die europäische Arbeiterklasse versagte der Kommune ihre Solidarität; ihre Lehren gingen nicht in die Programme der sozialistischen Parteien ein.
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Die Idee des Rates jedoch blieb. In Umbruchzeiten, die einen vergleichbaren Schub an sozialer Fantasie freisetzten, konnte sie wieder aktualisiert werden. Es war klar, dass es die Arbeiter*innen selbst sein müssten, die dies unternähmen. Das dauerte. Erst mit dem Aufkommen der Massenstreiks Ende des 19. Jahrhunderts, ein damals völlig neues Phänomen, und parallel dazu der Verfestigung einer mächtigen Partei- und Gewerkschaftsbürokratie, die sich als Hemmschuh proletarischer Suchbewegungen erwies, zeichnete sich das Programm der Revolutionäre wieder ab.
Es war schließlich der Ausbruch der ersten Revolution in Russland, 1905, die in dieser Form niemand für möglich gehalten hatte, insbesondere die russischen Sozialisten nicht, der die Räte als Prinzip der Massenemanzipation aufs Tapet brachte. Rosa Luxemburgs Aufarbeitung dieser russischen Erfahrung zu lesen, etwa »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«, bleibt bis heute faszinierend. Denn sie wusste, dass diese Formen der Selbstorganisation abseits von Partei und Gewerkschaft sie an die Grenzen ihrer Theoriebildung brachten. Sie konnten beschrieben werden, aber (noch) nicht erklärt – und Luxemburg tat es auf literarisch mitreißende Art.
Zutiefst waren die Revolutionäre des 19. Jahrhunderts davon beseelt, dass der Blitz des Gedankens in die Massen hineinfährt und die revolutionäre Bewegung in Gang setzt. Mit dem Auftreten der Räte ist diese Vorstellung aber passé (oder müsste es eigentlich sein). Trotzki schreibt über die erste russische Revolution, an der er in vorderster Stellung teilnahm, dass die Parteien Organisationen im Proletariat, die Räte allerdings Organisationen des Proletariats seien. Diese sind das Fundamentale, Primäre, die angemessene Bewegungsform proletarischer Emanzipation – und nicht die Partei, auch nicht die Gewerkschaft.
Das Interessante an der Rätebewegung ist nicht das beständige Auftauchen von bestimmten Verfahrensfragen in Entscheidungsprozessen – zum Beispiel das Prinzip des imperativen Mandats –, sondern es ist ihr gesellschaftlicher Gehalt. Der Industriebetrieb ist die Keimzelle der Räteorganisation, sie ist klassen-bezogen. Aber das ist noch nicht die entscheidende Dimension des Rätebegriffes: Sie sind nicht nur Kampforganisationen, sondern auch gesellschaftliche Gestaltungsorgane, das unterscheidet sie von Streikkomitees.
Räte sind Orte der Selbstverständigung, die die Möglichkeit bieten – und es ist nur eine Möglichkeit! –, die Hierarchien der Arbeitsteilung, die Aufspaltung des gesellschaftlichen Lebens in eine Sphäre der Politik und eine der Ökonomie zu attackieren. Sie dienen im Klassenkampf unmittelbar dazu, Aktionen zu beschließen und zu koordinieren, und im nächsten Atemzug, sich die gesamte Gesellschaft anzueignen. In den Räten wird nicht zwischen Klassenkampf und gesellschaftlicher Gestaltung getrennt, es bedarf nicht mehr der Vermittlungsform einer Partei. »Die Kommune«, noch mal Marx, »sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit«.
Systematisch müsste man es vielleicht so ausdrücken: Die Räte sind die angemessene Artikulationsform einer Arbeiterklasse, die ihrer traditionellen und lokalen Bindungen zunehmend beraubt ist, die einerseits radikal kulturell desintegriert, andererseits mit Haut und Haar in den Produktions- und Verwertungsprozess integriert ist, sodass sie gezwungen ist, in der Produktion die Momente ihres Eigensinns, ihres Ab- und Wegtauchens, ihrer Subversion, kurzum: ihrer Lebenskunst zu erproben. Die Räte sind es deshalb, weil darin Angelegenheiten der Produktion und der Politik auf gleicher Ebene – im gleichen Atemzug – besprochen werden, weil in ihnen das Wissen der Arbeitenden über die Produktion voll zur Geltung kommt – nicht mehr ausgerichtet ist auf einen den Arbeiter*innen fremden Zweck – und weil daraus direkt Rückschlüsse auf das gesamte soziale Leben gezogen werden können. Der Zweck dieses befreiten Wissens liegt in der radikalen Verkürzung der Arbeitszeit.
Sicher, die europäische Rätebewegung ist hier stark idealisierend und von einem radikal unbedingten Standpunkt aus dargestellt. Der Standpunkt ist der des Rätekommunismus, der damals als einzige Strömung der Arbeiterbewegung die praktische Organisationskritik, wie sie die Rätebewegung zumindest ansatzweise durchgeführt hatte, und die theoretische, wie sie in den Schriften von Luxemburg etc. vorliegt, über das revolutionäre Moment, das 1921 in Europa erloschen war, versuchte weiterzutreiben.
Wer die Lebensbilanz Anton Pannekoeks, ein Zeitgenosse Luxemburgs und später maßgeblicher rätekommunistischer Theoretiker, in die Hand nimmt, wird staunen. Das Buch heißt schlicht »Arbeiterräte« (1946, die deutsche Ausgabe erschien erst 2008); Pannekoek, ein Niederländer, hat es in den Jahren der deutschen Besatzung in der Isolation und ohne Quellenmaterial geschrieben. »Arbeiterräte« ist eine Darstellung der reformistischen, bolschewistischen, faschistischen Hindernisse, die der Selbstbefreiung der Arbeiter*innen im Wege stehen und die diese sich häufig selbst gestellt haben. Die Entscheidung für die Räte als Medium ihrer Selbstbefreiung wäre eine ex negativo: Sie sind das, was übrig bleibt, nachdem sich Arbeiterpartei und Gewerkschaft als Organe der Konterrevolution erwiesen haben, abhängig von bürgerlicher Demokratieillusion oder stalinistischer Staatsräson.
Dass der 1. FC Köln Bundesligameister wird, ist wahrscheinlicher als die Renaissance der Rätebewegung. Immerhin ist es schon jetzt möglich, sich von Illusionen über die Wirksamkeit von Räten freizumachen, die hier und heute als »Mitbestimmungsorgane« eingeführt und gar vom Staat lizenziert würden, wenn man sich die historische Fallhöhe vergegenwärtigt – definiert dadurch, wofür die Räte nach 1905 standen.
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