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Flüchtlingshilfe: Minderheit wirbt in Pirna für Menschlichkeit
Initiative plädiert für humaneren Umgang mit Flüchtlingen. AfD droht das Rathaus zu erobern
Vor einigen Wochen waren Matthias P. und seine Frau im Müglitztal unweit der sächsischen Kleinstadt Pirna Pilze sammeln. Statt auf Braunkappen und Steinpilze stießen sie im Wald allerdings auf verlassene Schlafsäcke. Tags zuvor hatten sie in der Zeitung von Flüchtlingen gelesen, die in einem Kühltransporter über die Grenze gebracht und dann ausgesetzt worden seien. Nun standen sie vor den Spuren eines improvisierten Nachtlagers. »Wir waren erschrocken, wie nah an unserer Wirklichkeit das Thema plötzlich war«, sagt P. Kurze Zeit später wurde er Zeuge, wie Migranten an einem Samstagmorgen an die Tür der Marienkirche in Pirna klopften, die freilich verschlossen war. Die symbolträchtige Szene habe ihn aufgerüttelt, sagt er: »Ich wusste, wir müssen etwas unternehmen.«
Derzeit unternehmen viele Menschen in der Sächsischen Schweiz und im Osterzgebirge etwas, wenn sie tatsächliche oder vermeintliche Flüchtlinge sehen: Sie greifen zum Handy und alarmieren die Bundespolizei. Dabei folgen sie dem Vorbild des CDU-Landrats, der sich in der Zeitung mit derlei Verhalten brüstet. »Das ist fast so etwas wie ein Spiel geworden«, sagt Christina Riebesecker. Sie ist aktiv in der regionalen Arbeitsgemeinschaft Asylsuchende. Der Verein betreibt in der Pirnaer Altstadt ein Begegnungszentrum. Kürzlich war sie mit etlichen Menschen wandern, deren Äußeres auf einen »Migrationshintergrund« schließen lassen könnte. Auch auf diese Gruppe wurde die Bundespolizei aufmerksam gemacht. Sie habe sie gestellt und dabei »sehr barsch« reagiert, sagt Riebesecker. Ein ähnlicher Vorfall mit einem syrisch-deutschen Wanderverein sorgte kürzlich bundesweit für Schlagzeilen.
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Migration ist im Landkreis, der eine lange Grenze zu Tschechien hat, derzeit ein großes Thema. Die Regionalzeitung ist voll davon. Riebesecker hat das Vokabular der Berichterstattung analysiert. Die Rede sei fast ausschließlich von »Illegalen« und »kriminellen Schleusern«, sagt sie. Über Gründe für eine Flucht nach Europa und Deutschland werde kaum gesprochen. »Es ist eine sehr unterkomplexe Diskussion«, sagt Alina Gündel vom Verein Alternatives Kultur- und Bildungszentrum Akubiz in Pirna. Zudem werde selbst über kleinste Vorfälle detailliert berichtet. Das stützt die Argumentation des sächsischen Innenministers Armin Schuster. Der CDU-Politiker, der sich bei der Landtagswahl in zehn Monaten in der Sächsischen Schweiz um ein Direktmandat bewirbt, betont seit Monaten, die »Kapazitätsgrenze« bei der Zuwanderung sei erreicht. Um diese zu bremsen, drängte er vehement auf stationäre Grenzkontrollen, wie sie mittlerweile etwa an der Autobahn A17 im Osterzgebirge eingerichtet wurden. Selbst Polizisten räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass das allenfalls zu einer Verlagerung der Fluchtrouten führe.
Menschen wie Matthias P., Christina Riebesecker und Alina Gündel sind nicht länger gewillt, nur darüber zu debattieren, wie Flüchtlinge aus Deutschland ferngehalten werden können. Die »Geschleusten«, von denen in der Zeitung die Rede ist, seien »Menschen auf der Flucht«, heißt es in einem offenen Brief, den sie und einige Mitstreiter kürzlich veröffentlicht haben. Auf ihre Notlage solle nicht mit Zurückweisung reagiert werden; vielmehr seien »Hilfe und Solidarität die richtigen Entscheidungen«. Gemahnt wird, dass die hartherzige Haltung gegenüber Hilfesuchenden nicht nur diesen schade, sondern auch der Gesellschaft. Die Rede ist von einem »drohenden Verlust unserer Freundlichkeit, Warmherzigkeit und Bereitschaft zu helfen«. Der Brief schließt mit einem Appell, »Gesicht und Mitgefühl« zu zeigen.
Die Initiatoren wissen, dass viele ihrer Mitbürger anders denken. Dieter Wiebusch, der bei den Bündnisgrünen in Pirna aktiv ist, gab seit 2017 an der Volkshochschule Deutschkurse für Flüchtlinge. Etliche von ihnen seien nicht in Asylbewerberheimen untergebracht gewesen, sondern in Wohnungen, und hätten von »sehr schlechten Nachbarschaftserfahrungen« berichtet. Die Hilfsbereitschaft im Landkreis sei groß gegenüber Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine; sie sei deutlich geringer, wenn es um Menschen aus Syrien, Eritrea oder Afghanistan gehe. »Man unterscheidet sehr zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Flüchtlingen«, sagt Wiedebusch. Momentan wollten viele Menschen nicht Flüchtlingen helfen, sondern sie abwehren. »Wir sind eine Minderheit«, räumt Riebesecker nüchtern ein. »Die Mitte der Gesellschaft ist längst weit nach rechts gerückt.«
Das zeigte sich erst vergangenen Sonntag bei der Wahl eines neuen Oberbürgermeisters in Pirna. Der parteilose bisherige Rathauschef Klaus-Peter Hanke trat nach 13 Jahren nicht mehr an. Aus dem ersten Wahlgang ging der AfD-Bewerber Tim Lochner als klarer Sieger hervor. Mit knapp 33 Prozent lag er fast zehn Prozentpunkte vor Ralf Thiele von den Freien Wählern. Die CDU-Bewerberin Kathrin Dollinger-Knuth kam auf gut 20 Prozent. Der von den Grünen und auch der Linken unterstützte SPD-Stadtrat Ralf Wätzig erhielt nicht einmal ein Zehntel der Stimmen und lag noch hinter Einzelbewerber André Liebscher, der einst Mitarbeiter der Ex-AfD-Bundeschefin Frauke Petry war, dann zu den Freien Wählern wechselte, diese aber ebenfalls verließ.
Lochner war 2017 schon einmal als Einzelbewerber angetreten und hatte ein ähnliches Ergebnis erzielt, war aber Hanke klar unterlegen gewesen. Nun hat er beste Chancen, im entscheidenden Wahlgang am 3. Advent zum bundesweit ersten Oberbürgermeister der AfD gewählt zu werden. Verhindert werden könnte das nur, wenn andere Bewerber ihre Kräfte bündeln. Der Zweitplatzierte Thiele hat indes bereits angekündigt, erneut ins Rennen zu gehen. Ohnehin gelten die Freien Wähler nicht als wirkliche Alternative zur AfD. 2020 strich ihre Ratsfraktion gemeinsam mit der AfD Fördergelder für die Aktion Zivilcourage, die sich seit 20 Jahren für die Demokratie engagiert. Beobachter verweisen zudem auf frauenfeindliche Äußerungen gegenüber der CDU-Kandidatin. Deren Wahl wäre angesichts der Gemengelage bereits ein progressives Zeichen. Liebscher und Wätzig haben mittlerweile zu ihren Gunsten zurückgezogen.
In einem offenen Brief für mehr Mitgefühl mit Flüchtlingen zu werben, ist in dieser Lage keine Selbstverständlichkeit. Es gebe durchaus Menschen, die den Inhalt teilten, aber sich nicht öffentlich dazu bekennen wollten, sagt Matthias P. Manche fürchteten persönliche Anfeindungen, andere sorgten sich um ihr Geschäft. Einige Vereine hätten nicht unterschrieben, weil sie städtische Förderung erhalten. Trotzdem trägt der Brief bisher über 100 Unterschriften von Einzelpersonen, Gruppen, Initiativen, Parteien. Alina Gündel sieht darin ein Signal der »Selbstbestärkung«. Sie und ihre Gleichgesinnten mögen nicht die Mehrheit in Pirna und im Landkreis darstellen, aber es sei »ein gutes Gefühl zu wissen, dass wir nicht allein sind«.
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