Pandemie: Ohne Grundlage abgeriegelt

In der Coronakrise wurden die Bewohner einer »Problemimmobilie« in Göttingen rechtswidrig eingesperrt

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 4 Min.

Es waren turbulente Tage: Im Juni 2020, inmitten der Coronakrise, brach auch in einem Göttinger Hochhauskomplex das Virus aus. Die Stadtverwaltung stellte das ganze Gebäude unter Quarantäne und riegelte es ab, niemand durfte das Grundstück verlassen. Eine der betroffenen Familien klagte vor dem örtlichen Verwaltungsgericht – und bekam nun Recht.

Das Gericht erklärte die Freiheitsentziehung durch eine Umzäunung und polizeiliche Bewachung des Gebäudekomplexes in Ende vergangener Woche für rechtswidrig. Für die mehrere Tage andauernde Maßnahme gäbe es keine Rechtsgrundlage und der sogenannte Richtervorbehalt sei nicht eingehalten worden, so das Gericht in der Urteilsbegründung.

Der Wohnkomplex in der Groner Landstraße gilt als sogenannte Problemimmobilie und sozialer Brennpunkt. Rund 700 Menschen, darunter 200 Kinder und Jugendliche, leben dort unter äußerst prekären Bedingungen. Die Besitzverhältnisse an den nur 19 bis 39 Quadratmeter großen Wohnungen sind verschachtelt und undurchsichtig. Für die meisten Appartements zahlt die Stadt Göttingen die Miete, weil die Bewohner auf Transferleistungen angewiesen sind.

Nachdem sich zwei Frauen mit dem Coronavirus infiziert hatten, ordneten die Behörden Tests für alle Bewohner an. 120 Menschen wurden positiv getestet. Um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, stellte die Stadt den Komplex für zunächst eine Woche unter Quarantäne. Vom 18. bis 25. Juni 2020 blieben die Bewohner quasi eingesperrt. Die Eingänge zum Grundstück wurden abgesperrt und mit Toren verschlossen. Lieferwagen brachten Lebensmittel und Hygieneartikel, das Rote Kreuz und die Johanniter betrieben vor Ort auch eine mobile Sanitätsstation.

Aus Sicht vieler Bewohner funktionierte die Versorgung schlecht, es gab Klagen über zu wenig Essen. »Was uns von der Stadt gegeben wird, sind ein paar Äpfel und abgelaufene Chips«, sagte damals eine Frau. Auch von den Grünen und mehreren Initiativen setzte es Kritik: Der evangelische Pfarrer und Grünen-Ratsherr Thomas Harms sprach von einem »verschärften Arrest« für 700 Personen. Und stellte die Frage, ob eine solche Maßnahme wohl auch in den besseren Wohnvierteln der Stadt angeordnete worden wäre.

Die Gruppe »Basisdemokratische Linke« rügte, hier würden 700 Leute ohne sie vorab zu informieren »interniert« und mit einem Großaufgebot an Ordnungskräften gezwungen, zusammen mit den Infizierten auf dem Gelände zu sein. »Es wird riskiert, dass der gesamte Wohnblock krank wird, es wird in Kauf genommen, dass Risikopatienten in Lebensgefahr gebracht werden.«

Drei Tage nach Beginn der Quarantäne eskalierte die Lage. Am 21. Juni zog eine Demonstration in die Groner Landstraße, vor dem Wohnkomplex forderten die Protestierenden den Abbau der Zäune. Innerhalb der Absperrungen versammelten sich zugleich etwa 100 Bewohner. Sie rüttelten an den aufgestellten Bauzäunen, einige versuchten über die Hindernisse zu klettern. Flaschen, Pyrotechnik und Haushaltsgegenstände flogen auf die Polizei, diese setzte massiv Pfefferspray ein, auch gegen Jugendliche. Auf beiden Seiten gab es Verletzte. Gegen etliche Hausbewohner liefen in der Folge Strafprozesse.

Ein damals 38 und 31 Jahre altes Ehepaar mit seinen neun und drei Jahre jungen Kindern zog seinerseits vor Gericht. Dabei klagte die Familie nicht gegen die Quarantäneanordnung der Stadt an sich. Beklagt wurde vielmehr die in Amtshilfe der Polizei für die Stadt durch die Umzäunung des Komplexes und die damit einhergehende Freiheitsentziehung.

Für eine derart weitreichende Maßnahme sieht das von der Kommune in Anspruch genommene Infektionsschutzgesetz aber keine Rechtsgrundlage vor. Eine grundsätzlich mögliche »Absonderung« soll demnach in der Regel in einem geeigneten Krankenhaus erfolgen. Lediglich für »Quarantänebrecher« ist eine Rechtsgrundlage für eine zwangsweise Unterbringung in einem Krankenhaus oder in einer anderen geeigneten abgeschlossenen Einrichtung vorgesehen. Dies setzt aber einen vorherigen richterlichen Beschluss voraus.

Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts setze Grenzen im Sinne des Grundrechtsschutzes und habe weitreichende und grundsätzliche Bedeutung für die Rechtsentwicklung und den zukünftigen Umgang mit Gebäudekomplexen in Pandemielagen, kommentierte der Göttinger Rechtsanwalt Sven Adam das Urteil: »Die Stadt Göttingen hat wesentliche verfahrensrechtliche Anforderungen nicht erfüllt und damit erheblich und rechtswidrig in die Grundrechte der betroffenen und ohnehin sozial marginalisierten Bewohner des Gebäudekomplexes eingegriffen. Eine solche Maßnahme hätte auch trotz der pandemiebedingt dynamischen und sowohl tatsächlich als auch rechtlich schwierigen Lage in dieser Form niemals durchgeführt werden dürfen. Hier wäre mehr Hilfe statt Einsperren angebracht gewesen.«

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