Streik in Espenhain: Der Stolz der sächsischen »Schrotter«

Recycling-Arbeiter in Espenhain streiken seit 37 Tagen. Es geht ihnen um mehr Lohn – und auch um Respekt für Ostdeutsche

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Der Schrottaufbereiter Scholz wirbt für sich mit drei Begriffen. Sie sind in dem Gewerbegebiet in Espenhain, in dem zwei sächsische Firmen des baden-württembergischen Unternehmens ansässig sind und wo eine Straße nach dem langjährigen Firmenchef Berndt-Ulrich Scholz benannt ist, auf Schildern zu lesen. Der erste lautet: Recycling. Das ist das Geschäft der Firma. Lastwagen liefern kaputte Elektrogeräte oder abgewrackte Autos an. Sie werden zerkleinert, dann werden die Stücke nach Bestandteilen sortiert: Buntmetalle, Eisen, Aluminium, Leiterplatten, Kabel, die wiederverwendet werden.

Die anderen beiden Begriffe, die der Firma laut Eigenwerbung wichtig sind, lauten »Ressourcen« und »Responsibility«, zu deutsch: Verantwortung. Ressourcen: Das können Rohstoffe sein, die aus dem Schrott zurückgewonnen werden. Sie erneut zu nutzen und in den Wirtschaftskreislauf zurückzuführen, ist verantwortungsvoll gegenüber der Umwelt. Als Ressourcen gelten in Unternehmen allerdings auch die Mitarbeiter. Von denen gibt es in der Scholz-Tochterfirma SRW metalfloat, einem der beiden Betriebe am Standort, 180. Sie befinden sich im Streik, an diesem Donnerstag seit 37 Tagen. Ein Hauptgrund: Sie sehen nicht, dass mit ihnen verantwortungsvoll umgegangen wird.

Kathrin Kroll etwa arbeitet seit zwei Jahrzehnten in dem Betrieb, dessen Eigentümerfamilie bis 2013 vom »Manager Magazin« auf der Liste der 500 reichsten Deutschen geführt wurde, geschätztes Vermögen: 750 Millionen Euro. Kroll und ihre Kollegen in der Sortierung dagegen kommen mit ihrem Geld kaum über die Runden. Und das, obwohl sie täglich siebeneinhalb Stunden in kleinen Kabinen an einem Band stehen, auf dem geschredderte Metallteile vor ihnen vorbeiziehen. Im Winter kriecht Eiseskälte in die Füße, im Sommer »kochen wir bei weit über 30 Grad«, sagt sie. Nach den Schichten schmerzen Beine, Rücken und Hände. Am Monatsende bekommen Sortierer bei SRW metalfloat trotzdem höchstens 2000 Euro überwiesen, vorausgesetzt, sie haben zwei der vier Wochen in Nachtschicht gearbeitet. Ohne entsprechende Zuschläge wären es nur 1650 Euro. Das sei, sagt Michael Hecker von der IG Metall, »kaum mehr als der Mindestlohn«.

Es gab Zeiten, da musste man in Espenhain auch über einen solchen Job froh sein. Der Ort lag früher im Leipziger Braunkohlenrevier; auf dem Weg zu SRW passiert man Gebäude, die einst zu einer Fabrik zur Herstellung von Briketts und Koks gehörten. Sie verpestete die Luft in kaum vorstellbarem Maße, bot aber auch Tausende Arbeitsplätze. Nach 1990 wurde sie wie ein Großteil der Kohlegruben abgewickelt. Die Arbeitslosigkeit war hoch, und wer einen Job hatte, zettelte keine Debatten über Gehalt oder Arbeitsbedingungen an. »Als Ostdeutsche waren wir es nicht gewohnt, uns dem Arbeitgeber zu widersetzen«, sagt Carsten Schröder, der bei SRW »schwere Maschinen bewegt«.

Ihren widerständigen Geist entdeckten die, wie sie sich selbst nennen, »Schrotter« aus Espenhain erst 2013. Zunächst ging es um Verbesserungen bei Sicherheit und Arbeitsschutz. Schröder, Kroll und einige andere gründeten einen Betriebsrat. Erste Treffen mit der IG Metall fanden heimlich in einem Grillrestaurant statt, aus guten Gründen. Der Arbeitgeber sei »ein Union Buster«, sagt Michael Hecker, einer, der Gewerkschaftsarbeit behindert. Er suchte den Betriebsrat auszubremsen und setzte vor Gericht durch, dass es für die zwei Firmen am Standort getrennte Vertretungen gab. Weil beide jeweils weniger als 200 Mitarbeiter haben, müsse kein Betriebsrat bezahlt freigestellt werden, sagt Kroll, die auch berichtet, wie um jede Verbesserung kleinlich gerungen wurde. Klimaanlagen für die Kabinen gab es erst, nachdem mit Messungen akribisch nachgewiesen wurde, dass sie im Sommer tatsächlich heiß werden.

Marco Petritt, Kathrin Kroll und Carsten Schröder arbeiten und streiken bei SRW
Marco Petritt, Kathrin Kroll und Carsten Schröder arbeiten und streiken bei SRW

Interessenvertretung für die Beschäftigten war schon schwierig, als Scholz noch ein schwäbisches Familienunternehmen war. Das ist vorbei. 2016 mussten seine Eigentümer den mittlerweile als Aktiengesellschaft firmierenden Schrottverwerter verkaufen. Das »Handelsblatt«, das unter dem Titel »Eine Misere zu viel« berichtete, machte die Stahkrise und eine hohe Fehlinvestition in Australien verantwortlich. Die Scholz AG wurde für einen einzigen Euro an einen der härtesten Rivalen verkauft: das Unternehmen Chiho Environmental Group Limited, das in Hongkong ansässig und im Steuerparadies auf den Cayman Islands registriert ist. Chiho ist nach eigenen Angaben das weltweit größte börsennotierte Unternehmen der Branche. Am Firmensitz von Scholz in Essingen sitzen nun auch chinesische Manager.

Die Betriebsräte aus Espenhain waren zum Gespräch beim neuen Chef. Marco Petritt, Schriftführer in der Belegschaftsvertretung, hat ihn dabei auch auf unterschiedliche Bezahlung angesprochen. Die Recyclingarbeiter bei SRW metalfloat verdienen schließlich nicht nur 600 Euro weniger, als es der Branchentarif vorsieht; sie haben auch weniger in der Tasche als Scholz-Mitarbeiter in Baden-Württemberg, und das bei längerer Arbeitszeit. »Diese Ost-West-Unterschiede bringen mich auf die Palme«, sagt Petritt. Der chinesische Manager allerdings habe nur mit den Schultern gezuckt: »Dass man im Osten weniger verdiene als im Westen, das gebe die Geschichte her«, habe er geantwortet. Hart arbeiten darf man im Osten trotzdem. Nach Angaben der IG Metall erwirtschaftet SRW metalfloat von den 1,6 Milliarden Euro Gesamtumsatz der Scholz-Gruppe satte 22 Prozent. Rechnerisch entspreche das einem Jahresumsatz von zwei Millionen Euro je Beschäftigtem. Als die Zahlen in der Belegschaft bekannt wurden, riss manchem die Hutschnur. »Es ist eine Schande, dass sie uns bei derartigen Umsätzen so klein halten«, sagt Carsten Schröder. Kathrin Kroll sagt knapp: »Das ist Ausbeutung.«

Im Sommer 2023 war auch in Espenhain der Punkt gekommen, an dem sich die Mitarbeiter ihres Werts bewusst wurden und nicht mehr gewillt waren, derlei Ungerechtigkeiten hinzunehmen. Sie forderten in Abstimmung mit der IG Metall vom Management Verhandlungen über einen Tarifvertrag und traten, um dem Nachdruck zu verleihen, in kurze Warnstreiks – insgesamt fünfmal. »Das war sehr gnädig«, meint Michael Hecker. Anfangs schien eine Einigung auch möglich: Es habe zwei »sehr konstruktive« Gesprächsrunden gegeben, sagt der Verhandlungsführer der Gewerkschaft. Danach allerdings hieß es beim Managent: Schotten dicht. Nichts bewegte sich mehr. Die Belegschaft wusste: Es braucht mehr Druck. Am 6. November gab es eine Urabstimmung über einen Arbeitskampf. Das Ergebnis war eindeutig: 89,3 Prozent votierten für einen unbefristeten Streik. Zwei Tage später wurde das Streikzelt vor dem Werkstor aufgestellt. Jetzt steht es 37 Tage. Kathrin Kroll sagt: »Wir denken nicht ans Aufhören.«

Ihre Kollegen, die sich zu ihren regulären Schichzeiten nun um Feuertonnen mit IG-Metall-Logo scharen, wissen sich in einer besseren Verhandlungsposition als vor 20 oder 30 Jahren. Rund um Leipzig boomt die Wirtschaft; Arbeitskräfte sind gefragt und müssen sich nicht mehr mit einem Apfel und einem Ei abspeisen lassen. Viele Jüngere, die Familien gründen und womöglich ein Häuschen bauen oder kaufen wollen, hätten SRW schon den Rücken gekehrt, sagt Kroll: »In jeder anderen Firma bekommen sie mindestens fünf Euro mehr in der Stunde.« Geblieben sind viele Ältere. Auf sie wird nun die durch neu installierte Sortieranlagen noch umfangreicher gewordene Arbeit verteilt. Dass sie sich nicht ebenfalls längst etwas Besseres gesucht haben, begründet Kroll mit dem Zusammenhalt in der Belegschaft: »Nach 20 Jahren geht man nicht so einfach.« Allerdings haben auch die verbliebenen Mitarbeiter, deren Altersdurchschnitt bei mindestens 48 Jahren liegt, Rechnungen zu bezahlen: für Strom und Gas, im Supermarkt, an der Tankstelle. Manche, die weiter entfernt wohnen, hätten kündigen müssen, weil das Benzin für die Pendelei zu teuer geworden sei, sagt Kroll. »Den Kollegen geht es nicht um goldene Wasserhähne«, sagt Gewerkschafter Hecker, »sie wollen über die Runden kommen.« Also fassten sie sich ein Herz und traten in den Streik.

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Was einfach klingt, sei indes ein großer Schritt gewesen, sagt Schröder. »Uns war allen mulmig«, sagt er, »das war für uns ja Neuland.« Die Warnstreiks seien gewissermaßen die Generalprobe gewesen: »Es war toll zu sehen, wie viele vor dem Werkstor standen.« Inzwischen scheint nun fast so etwas wie Routine eingezogen zu sein. Jeweils zum Schichtwechsel versammeln sich alle im Streikzelt. Dort wird gekocht, diskutiert und Musik gehört. Ein Kollege verteilt selbst gebastelte Streikmaskottchen. »Wir haben viel Spaß«, sagt Betriebsrätin Kroll. Eine gesamte Zeltwand hängt voller Solidaritätsbekundungen aus der gesamten Republik. Prominenz aus Gewerkschaften und Politik war da: DGB-Chefin Jasmin Fahimi, SPD-Bundeschef Lars Klingbeil. Auch im Bundestag war der SRW-Streik schon Thema. Der Leipziger Linksabgeordnete Sören Pellmann erwähnte ihn als Beleg dafür, dass Ostdeutsche nicht länger Beschäftigte zweiter Klasse sein wollten und für die »oft angekündigte, aber immer noch nicht hergestellte Gleichbehandlung zwischen Ost und West« kämpften. In Sachsen würden nur 42 Prozent der Beschäftigten nach Tarif bezahlt, was, wie Pellmann betonte, »politisch gewollt« gewesen sei. Diese »Niedriglohn-Orgie« müsse ein Ende haben.

Im Streikzelt haben sie sich über die Besucher gefreut. Nun müssten »den warmen Worten aber auch Taten folgen«, sagt Marco Petritt. Am Ende ist für höhere Löhne freilich die Firmenleitung verantwortlich. Sie hüllt sich derzeit in Schweigen. Als die Espenhainer Belegschaft am Buß- und Bettag vor die Essinger Firmenzentrale gefahren war, fand sie sich vor Absperrgittern und Polizeiposten. »Schäbig und unwürdig« nennt das Carsten Schröder. Also läuft der Streik weiter. Dass Weihnachten bevorsteht, ändert daran nichts: »Das geht hier weiter, bis es einen Tarifvertrag gibt«, sagt Kathrin Kroll. Bis, um es mit dem Werbeslogan zu sagen, das Unternehmen seine »Ressourcen« endlich mit »Responsibility« behandelt.

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