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Wie »enteignet« man eine Künstliche Intelligenz?
Die Grundlagen der Statistik wurden schleichend revolutioniert – mit drastischen politischen Konsequenzen
Die Menschen machen sich ihre eigene Geschichte mithilfe der Werkzeuge, die sie in ihrem unmittelbaren Umfeld vorfinden. Diese Werkzeuge sind deswegen auch keine neutrale Angelegenheit. Nicht nur das Private ist politisch, sondern auch all die Dinge, die wir benutzen, um unser alltägliches Leben zu bewältigen – und das sind heutzutage nicht gerade wenige.
Die Frage, wie wir mit diesen Werkzeugen umgehen, spielt eine Rolle für die Politik ganz allgemein. Im letzten Jahrhundert konnte man noch diffus darauf hoffen, dass sich das Kommando über die Maschinen schon irgendwann erringen lässt. Heute dagegen setzt sich das »Kapital« der dynamischsten Wirtschaftszweige offenbar gar nicht mehr aus Maschinen und Fabriken zusammen, sondern aus Algorithmen, Codes und Formeln. Wie »enteignet« man eine Künstliche Intelligenz? Wie verteilt man den »Reichtum«, den ein Algorithmus produziert, wenn er Menschen mit statistisch geschätzten Gesundheitsrisiken von Krankenversicherungen ausschließt?
In dem Buch »Revolutionary Mathematics« hat sich der Datenwissenschaftler Justin Joque unter anderem diesen Schwierigkeiten bei der Überwindung des gegenwärtigen Kapitalismus gewidmet. Seine Vermutung: Die technologischen Neuerungen im Bereich der Statistik, die sich in den letzten 50 Jahren schleichend vollzogen haben, werden die Zukunft genauso stark verändern wie einst die tayloristische Arbeitsteilung.
Die leise Revolution der Bayesschen Statistik, benannt nach dem englischen Pfarrer Thomas Bayes, besteht in der Hauptsache aus einer Umkehrung des Rechenweges in der Statistik. Anstatt, wie noch in der Mathematik des 18. und 19. Jahrhunderts, von objektiven Wahrscheinlichkeiten wie einem fairen Münzwurf auszugehen, wird die »Fairness« der Münze selbst zu einer Frage der Berechnung. Wie wahrscheinlich ist es, dass eine Münze wirklich ganz genau mit je 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit Kopf oder Zahl anzeigt? In der Praxis: ziemlich unwahrscheinlich.
Der Kern der Bayesschen Statistik besteht nun darin, das »subjektive« Ergebnis eines Münzwurfs zu erraten. Ihr Anwendungsgebiet hat sie überall da, wo die verfügbaren Daten begrenzt sind. In der Erforschung seltener Krankheiten kann ein serieller Test zu vielen Falschdiagnosen führen. Statt also massenhaft zu testen, wird einem Computer beigebracht, das richtige Ergebnis bereits aus einigen wenigen Einzelfällen zu erraten.
Laut Joque hat diese Art zu denken jedoch nicht nur Vorteile, sondern passt wie die Faust aufs Auge einer unfreien Gesellschaft, in der die Unterscheidung zwischen Mensch und Werkzeug verschwimmt und sich zuungunsten Ersterer verschiebt. Die Einsicht, dass die vermeintlich objektiven Wahrheiten der Statistik immer und unweigerlich von menschlichen Subjekten und ihrer Interpretationsleistung abhängen, führt nicht zu deren Emanzipation, sondern nur zu einer umso umfänglicheren alltäglichen Inquisition: Das Kapital lässt die privatesten Geheimnisse der Menschen schlicht erraten, ohne formal dabei seine vertraglichen Verpflichtungen zum Datenschutz zu verletzen. Ähnlich wie einst Geld- und Warenform ist heute deshalb die Statistik die große Planierwalze, die alle Individuen auf ein kalkulierbares Risiko reduziert und Ungleiches vergleichbar macht.
Der Kapitalismus hat die Objektivität der Statistik gründlich entzaubert. Es wird wohl dennoch die Aufgabe der Subjekte bleiben, diese Entzauberung am Ende auch gegen ihn selbst zu wenden.
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