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Renée Sintenis: Ätherisch-graziös und aufklärend
Silke Kettelhake erinnert an Renée Sintenis, die Schöpferin des Berliner Bären
Als faszinierender Stern der Weimarer Boheme und Paradekünstlerin in den Galerien der 1920er Jahre wurde die Sintenis 1931 in die Akademie der Künste aufgenommen und 1934 von den Nazis als »nicht arisch« ausgeschlossen. Einige ihrer Werke galten als »entartet« und wurden aus den Museen entfernt. Nachdem die Schriftstellerin Silke Kettelhake ihr Herz für die 1942 mit 29 Jahren von den Nazis enthauptete Libertas Schulze-Boysen und die 1989 in der DDR-Opposition streitende »Sonja, ›negativ-dekadent‹. Eine rebellische Jugend in der DDR« entdeckt und deren Leben in zwei Büchern eindrucksvoll beschrieben hat, widmet sie sich mit großer Empfindsamkeit dem Schicksal einer fast vergessenen deutsch-jüdischen Künstlerin: Renée Sintenis (1888–1965).
Die Autorin ruft verständnisvoll die Eigenart des künstlerischen Schaffens der Sintenis in Erinnerung. Aufmerksamkeit erregte ihr Talent bereits in der Berliner Kunstausstellung 1914. Drei Tänzerinnen aus Gips, mit hoch angesetzten Brüsten, die Füße versetzt aufgestellt, mit kurz geschnittenen Haaren, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, ganz verträumt und versunken in den Tanz, sowie eine Stehende, die wie ertappt ihr Tuch über den nackten Leib ziehen will, begeisterten die Besucher.
Nachhaltige künstlerische Anerkennung errang die Bildhauerin über Jahrzehnte mit ihren kleinen Tierplastiken, die, in Bronze gegossen, sich zugleich zu einem Verkaufsschlager entwickelten. Fohlen statt ausgewachsene Pferde, Kälbchen und junge Esel, kleine Rehe und liegende Gazellen bezaubern durch die vermeintliche Einfachheit. Die Leichtigkeit der Bewegungen und die lebendige Individualität bleiben in den Schöpfungen der Sintenis gewahrt. Sie wollte nicht durch Monumentalität wirken, sondern auf das Innere des dargestellten Gegenstandes hinweisen.
Neben ihren Tierfiguren griff auch die Sintenis Themen aus der griechischen Sagenwelt auf. Mit ihrer Kleinen und ihrer Großen Daphne schuf sie Sinnbilder der Angst und Entsagung, als wollte sie dem aufkommenden nazistischen Ungeist, seinem Sieg- und Heldenkult entfliehen. Die Selbstvergewisserung im eigenen Porträt begleitete sie in allen Lebensphasen. Viele ihrer Werke sind durch Nazi-Barbarei und Krieg verloren gegangen; dem Erhaltenen wird noch zu wenig Augenmerk geschenkt.
Ihr wohl populärstes Werk, der »Sintenis-Bär«, 1932 als kleine Skulptur von 13,5 Zentimetern Höhe modelliert, begrüßt seit 1957 als 1,60 Meter große Bronzeplastik die Berlin-Besucher auf den Autobahnen und erfreut als Auszeichnung die Sieger der Berlinale.
Das Buch ist jedoch keineswegs ein schlichter Kunstkatalog für die Sintenis, im Gegenteil: Ihre Werke und ihr Lebensweg werden von der Autorin überzeugend in das Aufleben der Weimarer Demokratie und die Umbrüche zur Nazidiktatur eingeordnet. Darin liegt die eigentliche Stärke der Publikation. Besonders für junge Künstler dürfte anregend zu lesen sein, wie eine selbstbestimmte Bildhauerin, von dem sich wandelnden Zeitgeist erfasst und den politischen Machtverhältnissen fast erdrückt, sich treu bleibt, um ihrem eigenen Empfinden in Skulpturen und Bildern Ausdruck zu verleihen.
Dem Leser tritt die vorwärtsdrängende Kunstszene der »goldenen« 1920er Jahre mit vielen ihrer bedeutenden Vertreter vor Augen. Am stärksten Joachim Ringelnatz, heutzutage fast ebenso vergessen wie Renée Sintenis, aber auch die Kunsthändler Alfred Flechtheim, Karl Buchholz und Alex Vömel, die Bildhauer Georg Kolbe und Arno Breker, die Maler Max Liebermann, ihr Mann Emil Rudolf Weiß, Emil Nolde und viele andere. Deren sehr widersprüchliche künstlerische und politische Haltung sowie deren individuelles Schicksal beeinflussten das Leben und Denken der Sintenis, wie Silke Kettelhake detailreich erzählt.
Stärker noch als die Darstellung der Weimarer Jahre wirkt die Auseinandersetzung mit dem Vorgehen der Nazis gegen die »entartete« Kunst in den 30er Jahren. Es gibt nicht so viele Texte, die den niederträchtigen Antisemitismus und das verzerrte Deutschtum, die künstlerische Borniertheit und die penibel organisierte Brutalität der Kulturpolitik der Nazis so nachdrücklich entlarven. Wer weiß schon von der Bilderverbrennung am 20. März 1939 im Hof der Hauptfeuerwache Berlin-Kreuzberg, der 1004 Gemälde und Plastiken sowie 3825 Aquarelle, Grafiken und Zeichnungen zum Opfer fielen. Fast ein Wunder, dass die Sintenis diese Jahre und danach auch die Kriegsschrecken in Berlin überlebte.
Ein Trost, dass diese Künstlerpersönlichkeit in den Nachkriegsjahren mit dem Kunstpreis der Stadt Berlin und dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet und 1955 wieder in die Akademie der Künste berufen wurde. Silke Kettelhake gereicht zur Ehre, sie 2023, zu Zeiten nie ganz überwundener, jedoch aggressiver auftretender Nazi-Ideologie, wiederentdeckt zu haben. Ihr Buch zählt zu den wirksamen Mitteln gegen den aktuellen Neonazismus und Antisemitismus.
Silke Kettelhake: Renée Sintenis. Berlin, Bohème und Ringelnatz. Ebersbach & Simon, 144 S., geb., 20 €.
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