Dritter Weg in Marzahn-Hellersdorf: Rassismus an Berlins Rändern

Die Jugend Antifa Platte in Marzahn-Hellersdorf macht auf rassistische Übergriffe aufmerksam

  • Merrin Chalethu
  • Lesedauer: 4 Min.
»Nazis aus der Platte jagen« steht auf einem Banner, mit dem die Kundgebung rechten Strukturen in Marzahn-Hellersdorf den Kampf ansagt.
»Nazis aus der Platte jagen« steht auf einem Banner, mit dem die Kundgebung rechten Strukturen in Marzahn-Hellersdorf den Kampf ansagt.

»Alerta, Alerta, Antifascista!« ertönt es am Samstagnachmittag vom Cecilienplatz am U-Bahnhof Kaulsdorf-Nord. Rund 100 Personen haben sich auf dem Platz inmitten der Hochhaussiedlung in Marzahn-Hellersdorf versammelt, um gegen Rassismus zu demonstrieren. Sie wollen bei den Anwohnenden im Kiez das Bewusstsein für die vorhandenen rechten Strukturen und den Faschismus schaffen.

Die rechten Strukturen machen sich sogleich bemerkbar. Nicht einmal zehn Minuten nach Kundgebungsbeginn schleichen sich drei Nazis heran, unter ihnen die kiezbekannten Nazi-Aktivisten Erik S. und Larsen A.. Sie stellen sich in gewaltbereiter Pose etwa 50 Meter entfernt von den Demonstrant*innen auf, einer von ihnen filmt und fotografiert die Kundgebung ab. Ein paar Antifaschist*innen schirmen daraufhin die Veranstaltung mit Bannern und Regenschirmen ab, sie rufen Slogans in Richtung der rechten Provokateure. Es dauert noch einmal zehn Minuten, bis Polizist*innen kommen und den Störern einen Platzverweis erteilen.

Ein unheimlicher, aber kaum überraschender Zwischenfall: Rassistische Aufkleber, Schmierereien oder Übergriffe sind in Marzahn-Hellersdorf keine Seltenheit. Die Chronik des Berliner Registers zählt allein für den vergangenen November über 15 Vorfälle – darunter auch eine Morddrohung an einem Bahnhof der U5. Auffällig viele rechte Sticker wurden entlang der U-Bahnlinie zwischen Wuhletal und Hönow gefunden. Im Jahresvergleich zeigt sich eine steigende Tendenz: 2020 wurden in Marzahn-Hellersdorf 252 rassistisch motivierte Vorfälle gemeldet, 2021 waren es 240, 2022 gar 365. Die mit Abstand am häufigsten verzeichneten Vorfälle stellen rechtsextreme Propagandadelikte dar. Darauf folgen Bedrohungen, Beleidigungen und Pöbeleien.

Einwohner*innen von Marzahn-Hellersdorf sehen sich regelmäßig mit der Präsenz rechter Strukturen in ihrem Bezirk konfrontiert. Die 27-jährige Farzaneh, die seit 2019 in Kaulsdorf-Nord lebt, berichtet von Übergriffen gegen sie etwa alle ein bis zwei Monate. Sie hat afghanische Wurzeln und trägt Kopftuch. Gegenüber »nd« berichtet sie von Vorfällen auf der Straße, mit Fingern wurde auf sie gezeigt, sie sei als »Ausländerin« beschimpft worden. Es sei schon wahr, was die Leute sagen, so Farzaneh: »In Marzahn-Hellersdorf gibt es viele Neonazis«.

Verantwortlich für die jährlich dreistelligen Vorfälle ist unter anderem die neonazistische Kleinstpartei der Dritte Weg. Von ihr stammen viele der Aufkleber, auch die drei Nazis am Samstag gehören dem Dritten Weg an. »In keinem anderen Berliner Bezirk ist die Neonazipartei so aktiv wie in Marzahn-Hellersdorf«, kann Anne Schönfeld vom Register Marzahn-Hellersdorf bestätigen. Doch auch die AfD gewinnt in Marzahn-Hellersdorf an Zustimmung. Inzwischen ist sie die zweitstärkste Fraktion im Bezirk.

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Auch Ben wohnt im Bezirk. Vor zwei Jahren habe er die Jugend Antifa Platte Marzahn-Hellersdorf (JAPMaHe) mitgegründet, erzählt er, um den Kiez nicht den rechten Kräften zu überlassen. Die Kundgebung am Samstag war die erste der JAPMaHe, begleitet von Redebeiträgen über diverse Vorfälle und Informationsmaterial, wie man auf rechtsextreme Bedrohungen und Übergriffe solidarisch reagieren kann.

Ben berichtet im Gespräch mit »nd«, dass Kaulsdorf-Nord einen Hotspot der Nazistrukturen darstelle. An der U-Bahnstation wurde erst vor wenigen Wochen eine Frau mit Kopftuch bedroht. Der Angreifer gab ihr mit Worten und Gestiken zu verstehen, dass er sie töten wolle. Sie eilte daraufhin von der Haltestelle zu einer Bekannten: zu Farzaneh. Mit Farzaneh als Unterstützung ging sie anschließend zur Polizei. Diese schien aber kaum beeindruckt zu sein und erklärte, Rassismus sei in der Gegend normal, sagt Farzaneh.

Weder auf die Polizei noch auf die Hilfe von Passant*innen können Betroffene rassistisch motivierter Übergriffe zählen. Beobachter*innen seien oft desinteressiert, selbst rechtskonservativ oder verängstigt, sich selbst einzumischen, erzählt Ben. »Nazis fühlen sich hier super wohl. Wenn man hier als Nazi Menschen angreift, muss man nichts befürchten«, beschreibt er die Situation.

Opfer extrem rechter, rassistischer oder antisemitischer Gewalt in Berlin finden bei der Opferberatung Reachout Unterstützung. Reachout fokussiert sich auf extreme Vorfälle wie Gewalttaten und Bedrohungen, das häufigste Tatmotiv der erfassten Zwischenfälle sei Rassismus. Der aktuellste Bericht aus dem Jahr 2022 verzeichnet keine besonders hohen Fallzahlen in Marzahn-Hellersdorf im Vergleich zu anderen Bezirken und zeugt eher von einer allgemeinen Zunahme rassistischer Gewalt. Ben geht jedoch von einer »enorm hohen Dunkelziffer« für die Randbezirke aus.

Mit der Kundgebung wollen Betroffene wie Farzaneh und die JAPMaHe die Leute im Kiez auf das Problem aufmerksam machen. Sie wünschen sich, dass Umstehende reagieren und in solchen Situationen einschreiten oder die Polizei kontaktieren. Farzaneh appelliert an die Politik: »Ich wünsche mir, dass das Thema Rassismus ernster genommen wird und dass man gegen die Nazis kämpft.«

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