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Saale-Orla-Kreis: AfD-Landrat ante portas?
Das Super-Wahljahr beginnt in Thüringen im Saale-Orla-Kreis
Da stehen sie. Mit dem Rücken zur Bühne, große Transparente hochhaltend. Sie wollen verhindern, dass Neonazis, Rechtspopulisten, Verschwörungsgläubige noch weiter in Richtung der Redner dieser Kundgebung vordringen und deren Werben für eine solidarische Gesellschaft stören. »Refugees welcome«, steht auf einem dieser Banner, »Deine Stimme gegen Nazis« auf einem anderen. Nicht nur junge Menschen tragen die Transparente, sondern auch ältere und Personen mittleren Alters.
Für das, was sich in den nächsten Monaten in Ostdeutschland immer wieder abspielen wird, gibt es kaum ein prophetischeres Bild als jenes, das sich an diesem Tag in Schleiz bietet: Etwa 200 bis 300 Menschen haben sich an diesem Samstag auf dem Neumarkt der kleinen Stadt im Saale-Orla-Kreis zu einer Kundgebung versammelt, um davor zu warnen, dass ein weiteres Landratsamt an die AfD gehen könnte. Gewählt wird der Landrat in dem Kreis ganz im Südosten Thüringens am Sonntag, und AfD-Bewerber Uwe Thrum könnte gewinnen.
Das Wahljahr 2024 ist kein beliebiges. Schon lange nicht mehr war die Zukunft der Linken so ungewiss, noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren die politische Landschaft und die Wählerschaft so polarisiert, noch nie seit der NS-Zeit war eine rechtsextreme, in Teilen faschistische Partei so nah an der Macht. Wir schauen speziell auf Entwicklungen und Entscheidungen im Osten, die für ganz Deutschland von Bedeutung sind. Alle Texte unter dasnd.de/wahljahrost.
Unterstützer Thrums mischen sich zunächst unter die Kundgebungsteilnehmer und stören mit Gejohle und Gegröle. Kurz darauf sammeln sie sich im hinteren Bereich der Versammlungsfläche. Sie stimmen »Uwe, Uwe«-Sprechchöre an, schwenken Fahnen mit dem AfD-Parteilogo und solche der rechtsextremen Gruppierung »Freies Thüringen«, auch russische Nationalflaggen sind zu sehen.
Nur eine dünne Polizeikette trennt die Rechten von den Warnenden. Dazu eben die Männer und Frauen mit den Bannern. So belagert wie hier ist die Demokratie im Osten insgesamt; gerade im Superwahljahr 2024, in dem die Europawahl ansteht, später dann Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen, zudem Kommunalwahlen in neun ost- und westdeutschen Bundesländern. Die Landratswahl hier im Saale-Orla-Kreis bildet den Auftakt dieser großen Serie.
Zu dieser Kommunalwahl in einer Region, in der Wälder, Felder und Gewässer im schönen Wechsel ineinander übergehen, treten drei Männer und eine Frau an: Neben Thrum bewerben sich die Thüringer Landtagsabgeordneten Christian Herrgott (CDU) und Ralf Kalich (Linke) sowie die parteilose Regina Butz um die Nachfolge des scheidenden Landrats Thomas Fügmann (CDU), der die Verwaltung des Kreises seit 2012 leitet. Butz ist leitende Angestellte und kandidiert für die SPD.
Dass Thrum es mindestens in die Stichwahl schaffen wird und sogar realistische Chancen hat, Chef des Landratsamtes zu werden, daran zweifelt kaum jemand. Schließlich ist es einem AfD-Kandidaten erst vor einigen Monaten im nur einige Dutzend Kilometer entfernten Landkreis Sonneberg gelungen, Landrat zu werden, der erste der rechten Partei überhaupt.
»Die Gefahr, dass sich das hier wiederholt, besteht natürlich«, meint Kalich. Umso wichtiger seien zivilgesellschaftliche Aktionen wie die Kundgebung in Schleiz, mit der möglichst viele Menschen überzeugt werden sollen, für ihn, für Herrgott oder für Butz zu stimmen. »Das hier ist deshalb ein Bündnis der Demokraten, um die Demokratie zu erhalten«, sagt der Linke-Politiker.
Die Mahnungen auf dem Neumarkt sind umso dringlicher, als der Tischlermeister Thrum bundesweit dadurch bekannt geworden ist, dass ein Foto von ihm existiert, das ihn im August 2022 im Gespräch mit Heinrich XIII. Prinz Reuß zeigt. Das ist jener Mann, dem der Generalbundesanwalt vorwirft, Kopf einer Reichsbürger-Gruppe mit Umsturzplänen zu sein.
Was die Landratswahl im Saale-Orla-Kreis neben der zu erwartenden Stärke des AfD-Bewerbers zu einem Stimmungstest für weite Teile des Ostens macht, ist auch die sozioökonomische Struktur der Region, die der vieler anderer Gebiete zwischen Ostsee und Thüringer Wald gleicht. Der 80 000-Einwohner-Kreis zählt zum ländlichen Raum im klassischen Sinne: Die Quote der Eigenheimbesitzer ist hoch, die der Erwerbslosen klein. Der Niedriglohnsektor wiederum ist nicht zu unterschätzen; die Wege zum Arzt, zum Einkauf oder zur Schule sind für viele Menschen weit. Zum Frust darüber kommt jener über vermeintlichen Zwang zum Einbau neuer Heizungen und über Geflüchtete, obwohl es von Letzteren im Kreis nur wenige gibt.
Tatsache sei, sagt eine junge Rednerin auf der Bühne in Schleiz, dass das Leben auf dem Land immer teurer werde. »Im schlimmsten Fall sind die Menschen deswegen verbittert und hoffnungslos.« Zwar habe die AfD mit ihren Zwei-Satz-Parolen keine wirkliche Lösung für derlei Probleme. Doch hindere das zu viele Menschen nicht daran, diese Partei zu wählen. Sie sei, sagt die Frau, deshalb angewidert von der Stimmung, die in vielen Dörfern von Hass und Ablehnung geprägt ist. Dass sie selbst aus der Region stammt, verleiht ihren Worten besonderes Gewicht.
Dass Stimmen wie ihre kurz vor der ersten Landratswahlrunde oder vor den anderen Abstimmungen in den nächsten Monaten von vielen gehört werden, muss man bezweifeln. Denn auch, wenn etwa der Linke-Kandidat Kalich einen engagierten Wahlkampf machen mag: Die Abstimmungen um die Besetzung von Landrats- oder Bürgermeisterposten sowie für Direktmandate in Landesparlamenten dürften im ländlichen Raum zumindest in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen vor allem zwischen AfD- und CDU-Bewerbern ausgetragen werden. Von letzteren klingen viele inzwischen fast wie AfD-ler, wenn sie über Geflüchtete oder die Ampel-Koalition in Berlin sprechen.
CDU-Landratsbewerber Herrgott will trotz dieser Aussichten keine Wahlempfehlung anderer Parteien für sich. Nicht für die erste Runde und auch nicht in einer wahrscheinlichen Stichwahl. »Ich möchte, dass die Menschen zur Wahl gehen und eine kluge Entscheidung treffen«, sagt er. Wenn sie nach allen Abwägungen ihm ihre Stimme gäben, freue er sich darüber. Weitergehende Wahlaufrufe für seine Person etwa aus den Reihen der Linken, der Grünen oder der SPD hält er nach den Erfahrungen aus Sonneberg dagegen für nicht sinnvoll.
Diese Einstellung ist aus CDU-Sicht eine Lehre aus Sonneberg: Nachdem sich dort Vertreter aus dem rot-rot-grünen Lager in der Stichwahl um den Landratsposten für den CDU-Bewerber ausgesprochen hatten, erhielt der AfD-Mann noch 4000 Stimmen mehr als im ersten Wahlgang. Das zeige, dass solche Aufrufe nicht funktionierten, sagt Herrgott – und erntet Widerspruch.
Im wahrscheinlichen Falle einer Stichwahl müsse es auch im Saale-Orla-Kreis unbedingt eine Solidarisierung aller Demokraten mit dem Kandidaten aus dem demokratischen Spektrum geben, sagt zum Beispiel die Leiterin des Thüringer Demokratieberatungsprojekts Mobit, Romy Arnold. »Natürlich müssen Demokraten dann zusammenstehen – denn das ist doch die Aufgabe von Demokraten«, sagt sie. »Wenn die erste Wahl im Superwahljahr 2024 an die AfD ginge, wäre das als Signal fatal.«
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