»Go gentle, babe«

Museyroom (Teil 13): Foundling Museum, London

  • Jürgen Schneider
  • Lesedauer: 6 Min.
Thomas Benjamin Kennington (1856–1916): »The Pinch of Poverty«, 1891
Thomas Benjamin Kennington (1856–1916): »The Pinch of Poverty«, 1891
Museyroom

Im Museum liegt die Kraft. Glauben Sie nicht? Gehen Sie doch mal rein! Jeden Monat stellen wir eins vor, in Text und Bild. So wie James Joyce es in »Finnegans Wake« geschrieben hat: »This is the way to the museyroom.«

Am 25. März 1741 wurde ein vier oder fünf Wochen alter Junge in einem temporären Londoner Kinderheim abgegeben: »Go gentle, babe.« Er trug die Markierung »IA«, eine Windel und war in einen braunen Mantel gehüllt. Er bekam die Nummer 5 und den Namen John Bowles. Am 13. April 1741 wurde er Pflegeeltern auf dem Land anvertraut. Am 24. Mai 1746 kehrte er nach London in das mittlerweile etablierte »Hospital for the Maintenance and Reducation of Exposed and Deserted Young Children« zurück, das unter dem Namen Foundling Hospital bekannt wurde und bis 1954 existierte. Wer die Werke von Charles Dickens kennt, wird mit den Namen vertraut sein.

Mit dem kleinen John waren 29 weitere Kleinkinder in das Heim aufgenommen worden. Nur sechs Kinder, zwei Mädchen und vier Jungen, blieben am Leben und sollten in eine »Lehre« gehen. John wurde als Erster dieser Heimzöglinge 1751 »Lehrling« am Bourne Place in Barham, Kent; ob für den Beruf eines Gärtners oder Dieners ist ungewiss.

Im Juli 1765 hielt sich dort der achtjährige Mozart mit seiner Familie auf. Ob Johns Arbeitsregime in Kent zahmer war als das in einer Fabrik, ist nicht überliefert. Über die »Lehrlinge« schrieb Friedrich Engels in »Die Lage der arbeitenden Klasse in England«: »Von Anfang der neuen Industrie an wurden Kinder in den Fabriken beschäftigt; anfangs wegen der Kleinheit der – später vergrößerten – Maschinen fast ausschließlich, und zwar nahm man die Kinder aus den Armenhäusern, die scharenweise als ›Lehrlinge‹ bei den Fabrikanten auf längere Jahre vermietet wurden. Sie wurden gemeinschaftlich logiert und bekleidet und waren natürlich die vollständigen Sklaven ihrer Brotherrn, von denen sie mit der größten Rücksichtslosigkeit und Barbarei behandelt wurden.«

Am 9. August 1800 wurde im Londoner Heim das Baby Nr. 18 607 auf den Namen John Brownlow getauft. Er sollte das Foundling Hospital gegen Kritiker verteidigen und veröffentlichte 1831 den Roman »Hans Sloane: A Tale illustrating the History of the Foundling Hospital«. Mastermind des Foundling Hospitals war der Seemann Thomas Coram (ca. 1668–1751). Aus Amerika zurückgekehrt, entsetzte ihn die Armut, die er in London vorfand. Diese war der Hauptgrund, warum pro Jahr geschätzte 1000 Babys auf den Londoner Straßen ausgesetzt wurden. Noch 100 Jahre später sollte Engels schreiben, dass Nacht auf Nacht im glänzendsten Bezirk Londons »Weiber zu finden sind, Weiber – jung an Jahren, alt an Sünden und Leiden, Ausgestoßne der Gesellschaft, verfaulend in Hunger, Schmutz und Krankheit«. Zu den Armutsgründen kamen die der Moral – uneheliche Kinder wurden ebenfalls ausgesetzt.

Coram sammelte 17 Jahre lang Unterschriften in Kreisen philanthropischer und begüterter Londoner Bürgerinnen und Bürger, bis König George II. ihm schließlich im Oktober 1739 die Royal Charter zur Errichtung der privaten karitativen Einrichtung zur Aufnahme von Findel- und Waisenkindern gewährte sowie von Kindern, die von ihrer Mutter oder ihren Eltern nicht versorgt werden konnten.

Der Geschichte des Foundling Hospitals widmet sich das Foundling Museum. Dieses ist zugleich auch ein Erinnerungsort an den Maler William Hogarth (1697–1764) und den deutschen Komponisten Georg Friedrich Händel (1685–1759), die beide zu den frühen Förderern von Corams Projekt zählten. Beide handelten jedoch auch im eigenen Interesse. Hogarth war bestrebt, gegen die englischen Vorlieben für italienische und französische Kunst der englischen Kunst zu Anerkennung zu verhelfen. Die Schenkung seines Porträts von Coram von 1740 begründete die Foundling-Kunstsammlung, animierte seine Kollegen, dem Hospital ebenfalls Werke zu spenden.

Das Foundling Hospital wurde so im späten 18. Jahrhundert zur ersten Kunstadresse in London. Im Museum wurde die Picture Gallery des einstigen Foundling Hospital rekonstruiert. Neben Hogarths Coram-Porträt sind hier unter anderem Werke von Allan Ramsay, Thomas Hudson, Joseph Highmore, Francis Cote und Joshua Reynolds zu sehen. Im ebenfalls rekonstruierten Court Room sind neben acht runden Gemälden von Londoner Hospitälern vier großformatige Gemälde ausgestellt, die sich der Rettung von Kindern widmen, wie etwa Francis Haymans Werk »The Finding of the Infant Moses in the Bullrushes« von 1746.

Da eine Opernaufführung kostspielig war, wandte sich Händel in England dem Komponieren von Oratorien zu, womit er die Grundlage für die englische Chortradition legte. Zudem begründete er die Tradition, einmal im Jahr sein Oratorium »Messiah« im Foundling Hospital zur Aufführung zu bringen. Der Publikumsandrang war stets groß und seiner Berühmtheit, seinem Geldbeutel sowie dem Erlös für das Hospital sehr förderlich. War der Uraufführung von »Messiah« in Dublin 1742 ein großer Erfolg beschieden, so wurde die erste englische Aufführung im Covent Garden Theatre heftig kritisiert – ein religiöses Werk sollte nicht von Schauspielerinnen in einem Theater präsentiert werden. Mit den Aufführungen im Foundling Hospital wurde das Oratorium allerdings sehr populär.

Händel ist die zweite Etage des Museums gewidmet. Hier ist nicht nur sein handschriftlicher letzter Wille (von dem es mehrere Ausführungen gibt) zu sehen, in dem er auch das Foundling Museum bedachte, sondern ebenso Materialien zu »Messiah« sowie das Notenblatt zum Dirigieren seines »Foundling Hospital Anthem«. Daneben befindet sich hier die 10 000 Objekte umfassende Händel-Sammlung von Gerald Coke (1907–1990), die der Forschung dient.

Im Erdgeschoss des Foundling Museums wird das Leben der Kinder in der karitativen Einrichtung beleuchtet. In den ersten 15 Jahren nach dessen Einrichtung überlebte nur rund die Hälfte der aufgenommenen Kinder. Im Vergleich dazu lag die Säuglingssterblichkeit von Findlingen in den normalen Armen- und Arbeitshäusern bei fast 99 Prozent. Als das Parlament verfügte, dass sämtliche Säuglinge, die in das Heim gebracht wurden, aufgenommen werden müssen, und als Folge davon die Kapazitäten des Foundling Hospitals erschöpft waren, erhöhte sich die Zahl der Todesfälle dramatisch: Von rund 15 000 Kindern starben in drei Jahren mehr als 10 000. Das Parlament zog daraufhin seine Auflage zurück.

Das Aufnahmesystem wurde mehrmals geändert. Zur späteren sicheren Identifikation der Kinder gab es sogenannte Tokens. Die Mütter, die schreiben konnten, hinterließen ein Blatt Papier mit den Angaben über ihr Kind. Zu den »Tokens« gehörten aber auch Stoffteile (eins für das Heim, eins für die Mutter), eine besonders gekennzeichnete Münze oder Medaille. Ein 1759 aufgenommenes Mädchen, das den Namen Mary Russell bekam, trug einen irischen Halfpenny mit acht Aussparungen am Rand an einer Schnur um den Hals. Das 1758 aufgenommene drei Wochen alte Mädchen, dem man den Namen Ann Ketelby gab, wurde durch eine Medaille mit der Inschrift »Maria Augusta Handel« identifiziert.

Auf einer Tafel werden die Erziehungsmethoden des Foundling Hospitals erläutert. Corams Ziel war es, die Schützlinge zu »nützlichen Bürgern« zu erziehen und sie auf ihr zukünftiges »dienendes oder arbeitendes Dasein« vorzubereiten. Sie lernten lesen, um die Bibel zu studieren. Mädchen wurden angehalten, zu weben oder zu stricken, während die Jungs Seile flochten oder »Militärmärsche absolvierten«. Später wurde den Kindern auch das Schreiben beigebracht, gab es Mathematik- und Geografiestunden sowie Musikunterricht. Viele der Jungs kamen per Erzieherentscheidung über eine Musikkapelle zum Militär, während die Mädchen sich später als Dienstmägde verdingen mussten. So viel Philanthropie musste sein.

Kunst spielt im Foundling-Kosmos noch heute eine wichtige Rolle. So sind derzeit (noch bis zum 18. Februar 2024) im Museumskontext unter dem Titel »The Mother & The Weaver« Werke von Künstlerinnen (unter anderem Ida Applebrog, Louise Bourgeois, Marlene Dumas, Maria Lassnig») aus der Sammlung Ursula Hauser ausgestellt, die sich der Verletzlichkeit von Kindern, ihren Müttern sowie dem Mitgefühl widmen.

Foundling Museum, 40 Brunswick Square, London WC1N 1AZ
www.foundlingmuseum.org.uk

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