»Das hat es lange nicht gegeben«

800 000 Menschen seit Freitag auf der Straße

  • Christoph Driessen, dpa
  • Lesedauer: 5 Min.

Köln/Berlin. Bonita weiß, wie es sich anfühlt, ein Mensch zweiter Klasse zu sein. »Ich bin gebürtige Südafrikanerin und habe noch die Apartheidszeit miterlebt. Ich weiß, was es heißt, keine Freiheiten zu haben und in Angst zu leben, weil die Regierung sagt: »Ihr habt hier nichts zu melden.« Mit 18 Jahren ging Bonita nach Deutschland. Das ist jetzt schon 28 Jahre her. Sie hat hier eine Familie gegründet und die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Sie betrachtet Deutschland als ihre Heimat. Ihre Gewißheit, dass sie ihre Bürgerrechte hier nie mehr wieder verlieren konnte, ist nun zerbrochen.

»Ich habe Angst, dass es irgendwann heißen kann: Die AfD hat entschieden, dass diejenigen, die nicht hier geboren sind, wieder zurück sollen. Was heißt das dann für mich und meine Familie? Das ist meine Angst.« Deshalb ist sie an diesem Sonntag nach Köln gefahren, um gegen Rechtsextremismus zu demonstrieren – so wie Hunderttausende Menschen in vielen anderen deutschen Städten an diesem Wochenende.

Von insgesamt rund einer halben Million Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Freitag und Samstag sprach das Netzwerk Campact. Sein Geschäftsführender Vorstand Christoph Bautz erklärte, es sei ein »Wochenende der Hoffnung«. Am Samstag etwa 35 000 in Frankfurt/Main und Hannover auf die Straße gegangen, 30 000 in Dortmund, 20 000 in Karlsruhe und Stuttgart, 18 000 in Heidelberg, 16 000 in Halle, 15 000 in Nürnberg, 12 000 jeweils in Kassel, Gießen und Recklinghausen und 9000 in der thüringischen Landeshauptstadt Erfurt, wo AfD-Politiker Björn Höcke im Herbst als Wahlsieger die Regierung übernehmen will.

Die Wucht der Massenproteste

Die geografische Breite der Kundgebungen sei bemerkenswert, sagt der Konfliktforscher Andreas Zick der Deutschen Presse-Agentur. Ost und West seien vertreten, Metropolen wie auch kleinere Städte. Außerdem beteiligten sich Menschen, die noch nie oder seit Jahren nicht mehr demonstriert hätten. »Es sind nicht nur die erwartbaren urbanen, gebildeten und engagierten Milieus, sondern eine generationenübergreifende Zivilgesellschaft.« Man spüre, dass ein Ruck durch die Gesellschaft gegangen sei: »Dass Richter, die Kirchen und vor allem die Unternehmen sich so klar an die Seite der Demonstrationen stellen, hat es lange nicht gegeben.«

Was aber ist es, dass diesen Ruck plötzlich ausgelöst hat? In den Umfragen ist die AfD schließlich schon seit vielen Monaten stark. Es dürften die erschreckend konkreten Details sein, die dank der Recherchen des Medienhauses Correctiv über das Treffen von Rechtsradikalen in einer Potsdamer Villa im November bekannt geworden sind. Daran hatten auch mehrere AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der sehr konservativen Werteunion teilgenommen. Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte nach eigenen Angaben über »Remigration« gesprochen.

»Das weckt unwillkürlich Erinnerungen an die furchtbare Wannseekonferenz«, sagte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dazu der Funke Mediengruppe. Sie wolle beides nicht miteinander gleichsetzen. »Aber was hinter harmlos klingenden Begriffen wie »Remigration« versteckt wird, ist die Vorstellung, Menschen wegen ihrer ethnischen Herkunft oder ihrer politischen Haltung massenhaft zu vertreiben und zu deportieren.«

Bei der Wannseekonferenz hatten am 20. Januar 1942 – am Samstag vor genau 82 Jahren – hohe NS-Funktionäre über die systematische Ermordung der europäischen Juden beraten. Das 15-seitige Protokoll der Sitzung ist eines der wenigen erhaltenen amtlichen Dokumente, die die Chefplaner des Holocaust in Aktion zeigen. Auffällig ist die bürokratische Tarnsprache, in der der angestrebte Völkermord verhandelt wird: Begriffe wie »Evakuierung«, »natürliche Verminderung«, »entsprechend behandelt« und »Lösungsmöglichkeiten« stehen alle für Mord. Die Parallele zu dem beschönigenden Begriff »Remigration« lässt frösteln.

Sind die Demonstrationen nun ein kurzes Aufflackern oder baut sich da eine breite demokratische Gegenbewegung auf? Und werden diese von Parteien und Politikern vereinnahmt? »Noch ist es nicht im üblichen Sinne bewegungsförmig, aber es ist eine klare Gegenbewegung gegen den Aufwärtstrend der AfD und das weitere Eindringen in Parlamente, in die Kultur und den Alltag«, meint Wissenschaftler Zick. »Dazu müssen sich weitere Netzwerke und Aktivitäten ergeben. Das müssen wir abwarten. Aber egal was sich da entwickelt, es ist für den Moment eine wichtige gemeinsame Bewegung mit alten und neuen Akteuren, eine breite Allianz aus Gruppen inklusive von Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft.«

Zustimmung für die Proteste gibt es auch seitens der Ampel-Regierung, dort vor allem von den Grünen. Außenministerin Annalena Baerbock lobte den zunehmenden Protest gegen rechts in Deutschland vor allem auch in kleineren und mittelgroßen Städten. »Das ist doch die Stärke in unserem Land«, sagte Baerbock. Vizekanzler Robert Habeck wertete die Demonstrationen als ermutigendes Zeichen für die Demokratie. Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir hat die bundesweiten Proteste ebenfalls begrüßt. Er habe diese aber auch so verstanden, dass sie sich an die Ampel-Koalition richteten, sagte der Grünen-Politiker. »Wir müssen unser Geschäft tun. Es geht nicht nur darum, dass die demokratische Mitte mobilisiert, sondern es geht auch darum, dass die Ampel aufhört – auch die demokratische Opposition von CDU/CSU – dass wir uns wie Kesselflicker streiten und damit Leute in die Arme der AfD treiben.«

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, bezeichnete die Demonstrationen als »gut und wichtig«, forderte zugleich aber weiteren Einsatz. »Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Bündnis«, sagte die SPD-Politikerin »Zeit Online« (Sonntag). »Und das bedeutet mehr als ein paar Mal auf die Straße zu gehen.«

Auch für Bonita, die gebürtige Südafrikanerin, steht fest, dass dieses Demo-Wochenende nur der Anfang sein darf. »Wenn wir sagen, wir haben drei Demos gemacht, jetzt sitzen wir wieder zuhause, das kann’s nicht sein«, sagt sie. »Ich glaube, wir müssen konstant zeigen, dass wir dagegen sind. Es kann kein Zurück mehr geben.«

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