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Sozialstaat – kann, muss aber nicht?
Leo Fischer über die Gedanken des obersten deutschen Sozialrichters zu der Frage, was alles wegkönnte
Viele Entscheidungsträger*innen lassen sich beraten, bevor sie sich öffentlich äußern. Umso erhellender ist, wenn jemand darauf verzichtet und tatsächlich sagt, was er denkt, in unverblümter Schamlosigkeit. Ein schöner Fall war die Bahlsen-Erbin, die 2019 ihre ungefilterten Gedanken über Segelyachten und Zwangsarbeit verlauten ließ und das Unternehmen inzwischen verlassen hat.
Ein weniger schöner Fall ist der oberste deutsche Sozialrichter, der jetzt der »FAZ« ein Interview gab. Hier offenbart sich derjenige, den wir dafür bezahlen, das soziale Netz zu schützen, uns vorm Abgleiten in Armut zu bewahren, als grimmiger Sparfuchs, dem das alles viel zu teuer ist. »Sehr viel Geld« geben wir dafür aus, dass niemand hungert oder friert, »ein Drittel unseres Bruttoinlandsprodukts. Das ging bisher immer gut, weil sich unser Land nach dem Krieg sehr gut entwickelt hat.« Für ihn steht jedoch fest: Das ist jetzt nicht mehr der Fall. »Deshalb beginnt eine Nachhaltigkeitsdebatte über den Sozialstaat eigentlich mit der Frage: Was müssen wir tun, damit unsere Wirtschaft leistungsfähig bleibt?«
Denn die deutsche Wirtschaft steht natürlich am Abgrund, das ist für solche Leute gesetzt – völlig egal, ob die Dax-Konzerne in den letzten Jahren Rekordprofite eingefahren haben oder ob es über eine Million Millionäre gibt. Der Wirtschaft geht es immer zu schlecht, den Leuten immer zu gut, und deshalb macht sich der Richter Gedanken darüber, was alles wegkönnte. Der »umfassende Schutz im Falle von Krankheit gilt in unserem Sozialstaat als Selbstverständlichkeit«, sagt er nachdenklich, der seine Pension und seine Beamtenprivilegien natürlich als absolute Selbstverständlichkeit sieht. Auch dass Arbeitslose nicht einfach so auf die Straße gesetzt werden können, wurmt ihn: »Ich verstehe, dass man keine Obdachlosigkeit schaffen möchte. Aber ich würde differenzieren, ob jemand alleinstehend ist oder aber Verantwortung für eine Familie trägt.« Singles kann man ruhig mal in die Gosse werfen – als wäre das Elend in den Großstädten nicht schon schlimm genug.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Aber nein, Strafe muss sein und Armut ist strafbar: »Die Vorschriften zur Leistungsminderung im Bürgergeldsystem werden jedenfalls nicht konsequent durchgesetzt.« Es wurde schon so oft vorgerechnet, aber es kommt einfach nicht in die Köpfe: Die Zahl der sogenannten Totalverweigerer*innen beim Bürgergeld beläuft sich auf ein paar Tausend; der Schaden, der durch sie entsteht, könnte von der Familie Boehringer aus der Portokasse bezahlt werden. Er steht in keinem Verhältnis zu den Milliarden, die sich der Staat durch Steuerbetrug entgehen lässt.
Doch für den Richter ist klar, dass es »die breite Mitte unserer Gesellschaft« ist, »die diese Leistungen aus ihrem Lohn erbringen muss«, nicht die Vermögenden oder diejenigen, die mit der Angst vorm sozialen Abstieg ihr Geschäft machen. Warum es aber immer die mit den Rundum-sorglos-Beamtenkarrieren sind, die andere über »Eigenverantwortung« belehren müssen? Man weiß es nicht.
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