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Traum vom Wiederaufbau
Noch geht es hinter der Front in der Ostukraine ums Überleben. Aber viele hoffen auf einen neuen Anfang
In den Imbissen und Läden der von grauen Plattenbau-Fassaden geprägten ostukrainischen Großstadt Slowjansk sieht man viele Soldaten, auf den Straßen fahren vorwiegend Militärfahrzeuge. Slowjansk liegt in der Donezker Oblast und ist nur rund 35 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Das bedeutet: akute Gefahr durch Raketenbeschuss. In der Luftalarm-App, die fast alle in der Ukraine auf dem Handy installiert haben, ist die Donezker Oblast oft rot gefärbt – man wird dann aufgefordert, sich sofort zum nächsten Luftschutzkeller zu begeben.
Doch den Alarm ignorieren hier viele, die Flugwege der Geschosse sind kurz, und es bleibt sowieso kaum Zeit, sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen. Auch könnte man so kaum einem normalen Alltag nachgehen. Dennoch bleibt die Gefahr: 107 registrierte Einschläge gab es seit Beginn der russischen Großinvasion in Slowjansk. Bei einem Angriff am 14. April vergangenen Jahres trafen Raketen ein mehrstöckiges Wohnhaus, 15 Menschen starben.
Die anarchistische Berliner Hilfsorganisation Radical Aid Force macht auf ihrer Wintertour in Slowjansk Halt, um Hilfsgüter zu verteilen – vor allem an Zivilist*innen, aber auch an befreundete Soldat*innen. Einer von ihnen ist Bez, der unweit von Slowjansk stationiert ist. »Die Lage ist schwierig«, erzählt er, »In unserer Richtung versucht der Feind regelmäßig vorzudringen.« Bez war zu Beginn der russischen Großinvasion am 24. Februar zunächst freiwilliger Helfer – Volontär, wie man in der Ukraine sagt – dann schloss er sich vor knapp einem Jahr der Territorialverteilung an. Er ist Soldat auf Zeit. Bez ist Anarchist und Veganer, das Paket, das ihm Radical Aid Force übergibt, enthält neben dringend benötigtem technischen Equipment für seine Einheit auch Fußwärmer, Handyakkus sowie vegane Süßigkeiten.
Aus dem friedlichen Berlin kommend ist der Ort mit seiner massiven Militärpräsenz zunächst unbehaglich, der Körper reagiert mit Stress auf die fremde Situation. Für Bez ist es anders: »Slowjansk fühlt sich für mich inzwischen an wie Lwiw und Kramatorsk wie Kiew.« Damit meint er: Im Vergleich zu dem Ort, wo er stationiert ist, ist es in Slowjansk äußerst friedlich. An die Realität des Krieges, der in diesem Teil der Ukraine nicht erst seit knapp zwei Jahren, sondern bereits seit 2014 herrscht, hat man sich hier gewöhnt. Slowjansk und Kramatorsk liegen beide unweit der Front und werden vom Militär als Versorgungszentren genutzt – aber auch von den Freiwilligen, die Soldat*innen und Zivilist*innen unterstützen. »Ihre Arbeit ist unglaublich wichtig«, sagt Bez. »Der Staat stellt Lebensmittel, Waffen, Munition und Uniformen zur Verfügung. Aber wer besorgt Pick-ups? Oder Werkzeuge? Und jetzt im Winter brauchen wir auch Heizkissen und Grabenkerzen.«
Das alles bekommen die Soldat*innen von Freiwilligen wie der Initiative Radical Aid Force. Das Gespräch mit Bez findet auf Russisch statt. Im Donbass hört man sowohl Ukrainisch als auch Russisch, viele Menschen sprechen auch Surschyk, einen Mix aus beiden Sprachen. Entgegen der propagandistischen russischen Erzählung verweisen sprachliche Präferenzen aber keineswegs auf die politischen Einstellungen der Menschen: Zahlreiche ukrainische Soldat*innen sprechen Russisch – und kämpfen gegen ein imperialistisches Russland.
Auf dem Weg aus Berlin in den Donbass über Lwiw, Kiew, Charkiw fährt man am völlig zerstörten Isjum vorbei, passiert zerbombte Plattenbauten, Einfamilienhäuser ohne Dächer, Fassaden voller Einschusslöcher, verbrannte Bäume, zerstörte Brücken. Hinzu kommt weiter im Osten ein konstantes Brummen: Es stammt von den Rillen, die von Panzern in den Straßen hinterlassen wurden. Wenn Autoreifen die Rillen streifen, ertönt dieses unheimliche Geräusch im Innenraum des Autos. Die Straßen sollte man auf keinen Fall verlassen. Zahlreiche Schilder weisen darauf hin, dass hier noch alles vermint ist.
Radical Aid Force sammelt über soziale Medien Spenden, kauft ein, was von ihren Kontakten in der Ukraine am dringendsten benötigt wird und woran es massiv mangelt: Medizin, Generatoren, Nahrungsmittel, Kettensägen, Winterschlafsäcke, Thermokleidung, Starlinks und Autos für Soldat*innen an der Front. Sie überbringen die meisten Hilfsgüter selbst, um sicherzustellen, dass sie auch wirklich ankommen. Die Berliner Helfer*innen werden in der Ostukraine von Asya begleitet, sie ist von der befreundeten anarchistischen Initiative Help War Victims.
In der Kleinstadt Lyman, die von Mai bis Oktober 2022 unter russischer Besatzung stand, beliefert Radical Aid Force eine zentrale Verteilstelle. Lyman liegt im Norden der Donezker Oblast und ist nur etwa zehn Kilometer von der Front entfernt. 2014 war die Stadt für einige Monate unter Kontrolle der sogenannten Donezker Volksrepublik. Lyman hat eine strategische Bedeutung, denn in der Nähe liegen ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt und eine Querung über den Siwerskyj Donez.
Die meisten Einwohner*innen haben Lyman verlassen. Im Süden der Stadt, wo die Radical Aid Force die humanitäre Hilfe hinbringt, leben noch etwas mehr als 1000 Menschen, vor der russischen Großinvasion im Februar 2022 waren es etwa 9000. Manche sind auch aus den umliegenden Ortschaften geflüchtet.
Eine ältere Frau aus dem Dorf Terny ist zusammen mit ihrem Ehemann in die Stadt gekommen. Ihr Haus wurde von einem russischen Raketeneinschlag zerstört. Vor dem Krieg habe es in Terny an die 700 Einwohner*innen gegeben, jetzt seien nur noch 15 übrig. »Alle unsere Sachen sind dort geblieben. Wir wollten uns etwas aufbauen«, erzählt sie. »Aber jetzt sind wir obdachlos.«
Tamara, Natascha und Jelena kümmern sich um die Verteilung der Hilfsgüter in der Sammelstelle. »Der Großteil der Dagebliebenen sind Rentner«, erzählt Tamara. »Die jungen Leute brauchen Arbeit, aber gerade ist unsere Stadt zerstört.« Kindergärten gebe es keine, weil die Räume in Trümmern lägen und auch das Schulgebäude. Unterricht werde online gegeben. »Noch leben wir in Ruinen. Aber wir hoffen darauf, dass unsere Stadt wieder aufgebaut wird.«
Ein Sportangebot für Kinder gibt es bereits wieder: Oleksij ist Judo-Trainer und leitet eine Gruppe an. Früher gab es in Lyman eine Judoschule, aber die Sporthalle wurde komplett zerstört. »Das Gebäude war groß«, erzählt Oleksij. »Die Russen dachten wohl, da gäbe es Kriegstechnik oder Soldaten.« Nun weiche man für das Training in einen kleineren Raum aus. Licht oder Heizung gebe es dort nicht, gerade sei es zu kalt zum Trainieren, sagt Oleksij. Nach der Befreiung sei er nach Lyman zurückgekehrt, um voranzugehen. »Die Leute sagen: ›Wenn etwas in der Stadt initiiert wird, dann kommen wir auch zurück.‹ Deswegen tue ich, was ich kann.«
Radical Aid Force liefert nach Lyman neben Nahrungsmitteln für Menschen und Tiere auch einen Generator für die Judo-Ersatzsporthalle sowie warme Kleidung. Ein Sportangebot sei wichtig, meint Helferin Natascha: »Damit die Kinder nicht nur an den Krieg denken und etwas Helles im Leben haben.« Der dreizehnjährige Nikita ist eines der wenigen Kinder, die noch in Lyman verblieben sind. Sport mache er nicht, erzählt er. Aber zu Hause spiele er Klavier, das habe er sich selbst beigebracht. »Ich habe nur noch einen Freund hier, alle anderen sind weggefahren.«
Die Radical Aid Force verteilt Hilfsgüter auch in den umliegenden Dörfern. Dort zeichnet sich ein ähnliches Bild ab: Die meisten Häuser sind verlassen, viele zerstört. Die wenigen alten Menschen, die geblieben sind, brauchen Hilfslieferungen und sind dankbar über die Unterstützung der Volontäre.
Das Engagement von jungen Ukrainer*innen und internationalen Initiativen macht Hoffnung. In der Ukraine ist inzwischen eine regelrechte Graswurzelbewegung entstanden. Viele möchten helfen. Anton Jaremtschuk engagiert sich bei der Kramatorsker Organisation Base UA, bei der viele Künstler*innen mitmachen. Über die Rolle kleiner Initiativen sagt er, dass sie flexibel seien und auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen schnell reagieren können: »Große internationale NGOs, die über ausreichend Ressourcen verfügen, tendieren leider dazu, in eher oberflächliche Hilfeleistungen zu investieren.« Nur teilweise sei das, was sie leisten, wichtig. »Sie haben viel Zeit in den Aufbau von Lieferketten und -strukturen investiert, sie arbeiten wie eine große Fabrik. Es fällt ihnen schwer, sich neu auszurichten und an die Veränderungen anzupassen«, meint er. »Geld für Hilfe gibt es, aber es wird falsch verteilt.«
Zu Beginn bestand die Arbeit von Base UA lange vor allem aus Evakuierungen aus frontnahen Dörfern und Städten. In Bachmut gelangten die Freiwilligen der Initiative dabei unter russischen Beschuss, verletzt wurde glücklicherweise niemand. Man kenne aber viele befreundete Freiwillige, die gestorben sind.
Gerade laufe über die sozialen Medien eine Spendenkampagne über 12 000 Euro für die Umsiedlung einer zehnköpfigen Familie aus Frontnähe. Mit dem Geld soll ein Haus für die Familie in der Zentralukraine gekauft werden, wo sie neu anfangen können. Daneben betreibt die Organisation eine mobile Klinik und bietet ein breites kreatives Bildungsangebot für Kinder an. »Viele Kinder kennen nichts anderes als Krieg, er war für sie schon immer da«, sagt Anton.
Kürzlich eröffnete Base UA ein kleines Kulturzentrum für Kinder in Kramatorsk: »Bei einem Stop-Motion-Animationsworkshop hatten wir 25 Kinder hier. Wir möchten ihnen verschiedene Möglichkeiten aufzeigen, damit sie verstehen, was sie in ihrem Leben gerne machen möchten, welche Talente sie haben, welchen Beruf sie nachgehen möchten.« Es sei wichtig, schon jetzt an später zu denken, erklärt Anton. »Das ist die Generation, die dieses Land wieder aufbauen muss. Wir versuchen in die Leute zu investieren, die in zehn, fünfzehn Jahren die wichtigste Generation sein werden.«
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