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»Vom Pixelrealismus«: Augentrug und Bilderspuk
Der Medienwissenschaftler Jacob Birken fragt nach dem digitalen Realismus – und seinem sozialen Preis
Irgendetwas stimmt mit den Zitronen nicht. Ihre Schalen leuchten makellos gelb und verheißen spritzigen Vitamingenuss. Doch wer hat die Früchte so unnatürlich vor dem surreal angestrahlten Backsteinpodest verteilt? Und warum liegt eine alte VHS-Cassette daneben? »Cyborg« heißt die Arbeit des US-Künstlers Takeshi Murata aus dem Jahr 2011. Die unheimlich menschenleere Szene ist komplett am Computer entstanden. Allerdings bleibt Murata hinter dem zurück, was im Entstehungsjahr bereits möglich war. Grafisch bewegt sich die Komposition eher auf dem Niveau von 90er-Jahre Ikonen wie »Super Mario« oder »Toy Story«. Der letzte, täuschende Schliff der Realitätssimulation fehlt. Dafür sind die Zitronen zu glatt, zu rund, zu nah an der ovaloiden Grundform der Frucht. Warum trotzdem genau diese Machart?
Jacob Birken glaubt, die Antwort zu kennen. Der Kunst- und Medienwissenschaftler nimmt Muratas Zitrus-Spuk zum Ausgangspunkt eines analytischen Langessays über die digitale Kultur und ihre Bildpraxis. Unter dem Titel »Vom Pixelrealismus« schlägt der Kölner Universitätsdozent einen großen Bogen zurück in die frühe Neuzeit, um gleich mehrere Innovationsmythen der Künstlichen Intelligenz zu entlarven. Muratas Verweis auf das holländische Stillleben des 17. Jahrhunderts, zu dessen beliebtesten Requisiten Zitronen zählen, steht im Fokus von Birkens Argumentation.
Zunächst freilich erläutert er die handwerkliche Basis. Murata nutzt Verfahren wie das 3D-Rendering, das im Produktdesign wie in der Unterhaltungsindustrie zum Einsatz kommt. Nachdem zunächst eine virtuelle räumliche Umgebung geschaffen wurde, fügt der Künstler banale Objekte wie die Zitronen hinzu. Er kauft sie entweder als vorgefertigte 3D-Scans auf so genannten Rendering-Plattformen oder lässt sie von KI-Anbietern am Rechner erzeugen.
All das klingt nerdig, heutig und mitten im 21. Jahrhundert stehend. Dennoch unterscheidet sich die kreative Methode weniger radikal von vergangenen Epochen, als man zunächst annehmen könnte. Was heute als Virtual Reality firmiert, war in der frühen Neuzeit das Trompe-l'oeil, die Augentäuschung. Naturalistische Genauigkeit, Perspektive und Schattenwurf sollten die Betrachtenden verführen, nach gemalten Trauben, Birnen oder eben Zitronen zu greifen.
Bereits zu Rembrandts Zeiten arbeitete die Kunst mit Vorlagen. Birken erinnert an Willem Claeszoon Heda, einen der fleißigsten Stilllebenproduzenten seiner Generation. Er nutzte die Studie ein und desselben Glaskrugs für mindestens fünf verschiedene Gemälde. Darin ist das angelegt, was Birken »medienimmanenten Realismus« nennt – Bilder werden aus Bildern gemacht. Dieses Konzept einer Nachahmung, die nicht mehr zwangsläufig aus dem Kontakt mit der physischen Alltagswirklichkeit hervorgeht, verselbstständigt sich mit der elektronischen Bildgebung. Beispiele hierfür sind Anwendungen wie Dall-E oder Midjourney, die per Texteingabe Bilder generieren. Frage ich nach einer Zitrone, durchforstet die Software alles, was mit dem Schlagwort zu tun hat. Am Ende bekomme ich den kleinsten gemeinsamen Nenner einer Zitrone. Das Produkt dieses »statistischen Renderings«, wie manche es nennen, stammt aus einem mimetischen Zwischenreich: Weder ist die Darstellung im emphatischen Sinne der Moderne abstrakt, noch handelt es sich um die klassisch gegenständliche Mimesis einer identifizierbaren Vorlage. Die Zitronen aus Muratas Stillleben sind reine Ding-Gespenster, keine Nachahmungen eines Originals.
Das knapp 140 Seiten lange Büchlein führt geisteswissenschaftliche und technische Perspektiven klug zusammen, allerdings hätten Lesende sich ein paar Abbildungen mehr gewünscht. Auch einige theoretische Überlegungen sind nicht so neu, wie der Autor bisweilen suggeriert. Schließlich beginnt das Unbehagen an der reproduzierten Welt spätestens bei Platon und nicht erst bei Murata oder im Science-Fiction-Film »Matrix«. Gleichwohl punktet Birken durch anschauliche Erklärungen und berücksichtigt auch den ausgeblendeten Materialismus der hyperrealistischen Bildkultur: Schon die Stillleben in den Häusern des Amsterdamer Besitzbürgertums erzählen nichts von der prekären Situation der Mägde, die mit der Zubereitung der gemalten Kostbarkeiten beschäftigt waren. Zeitgenössische Computerspiele oder Streamingserien gehen im Realismuseffekt ihrer Drachen und Urwälder weit über den Augentrug historischer Feinmalerei hinaus – doch umso radikaler verschweigt dieser digitale Hyperrealismus auch die soziale Wirklichkeit. Die gesamte globale Informationsgesellschaft basiert auf kapitalistisch-neokolonialer Ausbeutung. Denn, so Birken, »vom Lohn in den Coltan- oder Kobaltminen im Kongo kann sich niemand die Play-Station leisten, die gerade ohne diese Rohstoffe nicht hergestellt werden könnte.« Hier liegt das kritische Potential von Positionen wie denen Muratas: Die kalkulierten Irritationen im digitalen Illusionismus wollen stutzig machen und Brüche bieten, durch die man aus der digitalen Höhle hinausblicken kann.
Jacob Birken: Vom Pixelrealismus. Takeshi Muratas Stillleben »Cyborg«. Schlaufen Verlag, 140 S., br., 22,50 €.
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