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Geschichte fühlen im Stadtbad Oderberger Straße
Unsere Kolumnistin taucht ab in einem historienträchtigen Pool in Berlin Prenzlauer Berg
Ich sinke. Mit geschlossen Augen gleite ich ins Warme. Die Nase bleibt oben, der Raum hinter den Lidern licht. Ich schwebe und blubbere ein bisschen. Da ist so ein Duft, ich blinzle durch den Wasserdampf. Meine Großmutter hält mir den Waschlappen hin, den sie hauchdünn mit Lux-Seife eingerieben hat. Auf dem Hocker thront die Seife in ihrer Plastedose, glänzend und rosa wie meine Großmutter unter dem schneeweißen Dutt. Ihre Hand mit dem duftenden Lappen kommt näher.
Ich öffne die Augen und liege neben meiner Freundin in einer Kissenlandschaft im Hotel ODERBERGER, das mit dem Slogan »feel history« wirbt. Wir befinden uns im Stadtbad Prenzlauer Berg, einige Meter unter den Kabinen mit den Wannenbädern, wie ich sie 1990 kennengelernt habe. Meine Freundin lebte da schon einige Jahre in Berlin und kam regelmäßig zum Baden, schwimmen war seit 1986 vorbei, das Becken hatte einen Riss. In die langen Wannen passten zwei Leute auf einmal, erinnert sie sich. Das fand sie romantisch, das Personal habe weggeguckt, wenn Pärchen kamen. An jede Tür war eine Fahrradklingel angebracht, die nach 20 Minuten Badezeit betätigt wurde.
Anne Hahn ist Autorin von Romanen und Sachbüchern und schwimmt für »nd« durch die Gewässer der Welt.
Wannenbäder dauerten Ende des 19. Jahrhunderts 45 Minuten, Brausebäder 20 und Schwimmen 30 – inklusive An- und Auskleiden, heißt es im bildbandgroßen Architekturführer »Bäderbau in Berlin«, dessen Kapitel »Die städtischen Volksbadeanstalten« die Berliner Stadtbäder untersucht. Auf 50 000 Einwohner Deutschlands kam nur eine Warmbadeanstalt – die neuen Volksbäder sollten der gesamten Bevölkerung »ohne Unterschied der Gesellschaftsklassen« zugänglich sein und jeder Mensch sein wöchentliches Wannenbad erhalten. Nach den Stadtbädern in Alt-Berlin/Mitte, Tiergarten, Friedrichshain und Kreuzberg wurde 1902 die fünfte, bis heute erhaltene städtische Anstalt in der Oderberger Straße eröffnet. Das Neo-Renaissancegebäude besitzt vier freie Fassaden (einmalig im dichtbebauten Berlin) mit Oberlichtern und maritimen Verzierungen. »Im 1. Stockwerk befinden sich sowohl im Vorderhaus wie auch in den Seitenflügeln Wannenbäder…«
Wannenbaden gehen lernte ich bei meiner Großmutter. Ich war zehn und verbrachte die Winterferien in Wittenberg. In der Altbauwohnung wurde nur ein Zimmer beheizt, Schlafzimmer, Küche und die leeren Räume dahinter waren eiskalt, die Toilette ein Besenschrank im Flur. Wir saßen im Warmen auf dem Sofa, häkelten oder strickten, sahen Ratesendungen und Schlagershows. Sonntags schrieb ich das ARD-Programm der folgenden Woche in ein Schulheft, dienstags gingen wir ins Volksbad. Mit einem Stück Lux-Seife, das Tante Erika jährlich aus Duisburg schickte.
Sportlich schwimmen ist heute schwierig im Stadtbad, das von Hotelgästen und zahlenden externen Gästen intensiv genutzt wird. Das Wasser ist kühl, das Becken ungeleint, es wird geplaudert und geplanscht. Hier haben wir Ende der Neunziger Performances erlebt, Ausstellungen gesehen und auf dem Beckenboden getanzt. Wir flüchten in die Sauna, ziehen nach dem Zweistundenslot einen Automatenkaffee im Obergeschoss und kuscheln in rotem Samt. Eine der Original-Türen springt auf und quietscht in den Angeln, aus dem Oberlicht zwinkert ein Nix.
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