Wenn die Weltbilder wanken

Verständnis war gestern: Susan Neiman und Julie Burchill kritisieren die Woken

  • Michael Wolf
  • Lesedauer: 6 Min.
Gewinnt derjenige, der das lauteste Megafon besitzt und die meisten Posts absetzt?
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Vor zehn Jahren wusste noch kaum jemand, was mit Identitätspolitik überhaupt gemeint ist. Inzwischen haben ihre Vertreter beträchtliche Landgewinne im sogenannten Kulturkampf erreicht. Wie über etwas zu sprechen ist, mit welchen Vokabeln und welchen Prämissen, das entscheidet immer häufiger eine gebildete Minderheit. Der soziale Zwang, der mit dieser Hoheit über den Diskurs einhergeht, hat zweifellos viel Gutes bewirkt. Die Hemmschwelle für diskriminierendes Handeln und Sprechen war wohl noch nie höher. Doch nicht erst seit der anlässlich des Kriegs in Nahost erneut entbrannten Diskussion um den Postkolonialismus befindet sich die Identitätspolitik nunmehr in der Defensive.

Im vor einem Jahr im Hanser-Verlag erschienenen Band »Canceln« meinte der »Zeit«-Feuilletonist Ijoma Mangold, seitdem die »Woken« als Vertreter dieser neuen Diskursmoral einen Namen hätten, seien sie erstmals angreifbar geworden. Wie Mangold schreibt, agierten sie zuvor aus der Deckung heraus. Sie behaupteten zum Beispiel gerne, es gebe gar keine »Cancel Culture« und ihre derart verunglimpften Einlassungen wären nichts anderes als zivilgesellschaftliches Engagement. Mit diesem Versteckspiel ist jetzt Schluss, da Vertreter bestimmter Interessen und Träger spezifischer Gesinnungen als »Woke« identifiziert sind. Wenn sie sich von diesem Schmähwort verkannt fühlen, teilen sie nur das Schicksal all jener, die zuvor von ihnen selbst als Rechte, als »Terfs« oder als »alte weiße Männer« disqualifiziert wurden.

Für eine eher traditionelle Linke, die ökonomische Gerechtigkeit den Repräsentationsfragen vorzieht, ist das eine gute Nachricht. Vermutlich hat kein anderes politisches Lager so sehr unter dem Erfolg der Woken gelitten, reklamieren doch auch sie die Bezeichnung links für sich und sprechen sie jenen ab, die sich mehr für den Mindestlohn als für Pronomen oder Gendersternchen interessieren. Fortschritt, also das linke Projekt schlechthin, vollzog sich bei den Woken rasant, während die ökonomisch orientierte Linke in der Vergangenheit zu leben schien. Susan Neiman schlägt nun zurück und natürlich trägt ihre Streitschrift den neuen Kampfbegriff im Titel: »Links ist nicht woke« heißt das Buch, mit dem die Philosophin und Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums trennen will, was ihr zufolge nicht zusammengehört.

Für eine wahre Linke ist Neiman zufolge ein Bekenntnis zum Universalismus unentbehrlich, das heißt ein Programm, das allen Menschen zugutekommt, mithin für die Gemeinschaft und das Allgemeine streitet. Mit einer Identitätspolitik, die im Gegenteil auf die Grenze und ihre Unüberwindbarkeit pocht, ist eine solche Agenda in der Tat nicht zu vereinbaren, weshalb Neiman sie naserümpfend als »Stammesdenken« oder »Tribalismus« abtut und damit überkommenen Epochen zuordnet. Tatsächlich problematisieren Anhänger des Postkolonialismus die Aufklärung, also die entscheidende geistige Ressource der Moderne, da diese die globale Ausbeutung befördert oder überhaupt erst motiviert habe.

Neiman gibt sich einige Mühe, diesen Verdacht zu zerstreuen und präsentiert als Beweise Zitate von Kant und Diderot. Gewinnen kann sie den Disput so aber nicht, weil die Kant-Kritiker eben auch einwandfrei rassistische Textstellen in der Hinterhand haben. Ohnehin ist der Versuch, die wohl folgenreichste Revolution des Denkens seit der griechischen Antike auf die Kategorien schuldig beziehungsweise unschuldig zu reduzieren, ein ziemlich hilfloses Unterfangen.

Die Woken machen sich etwas vor, wenn sie meinen, die Aufklärung verabschieden, missachten oder verlernen zu können. Doch auch Neiman sitzt einem Missverständnis auf. Wenn Studenten sich weigern, Kant zu lesen, weil sie auf Social-Media-Screenshots rassistische Passagen aus dessen Werk entdeckt haben, dann verstehen sie ihn eben nicht – wie Neiman – als Denker und Wegbereiter der Moderne, sondern als eine sehr konkrete politische Figur. Das Streitpotenzial zwischen Neiman als klassische Intellektuelle und den Woken verpufft in dem Moment, in dem man anerkennt, dass Letztere vor allem ein rhetorisches Interesse an Philosophie haben, dass für sie Inhalte nur solange von Belang sind, wie sie für ihre politische Argumentation nützlich sein können. Das soll nicht heißen, dass eine Auseinandersetzung mit ihnen keinen Sinn ergäbe, wohl aber, dass es vergebene Liebesmüh ist, ihnen gegenüber auf geistesgeschichtliche Korrektheit zu pochen.

Von Julie Burchill wäre das ohnehin nicht zu erwarten, ist sie doch eher für beherzte Kraftausdrücke bekannt. Die britische Journalistin entstammt der Punk-Bewegung, schrieb bereits als Teenager für den »New Musical Express«, später dann für mal linke, zeitweise auch für konservative Blätter über Filme, Mode, Feminismus und inzwischen am liebsten über die Woken, denen sie auch ihr jüngstes Buch widmet: »Willkommen bei den Woke-Tribunalen«. Sie wirft darin den von ihr so genannten »Woke Bros.« unter anderem vor, Genitalverstümmlung als legitime Praxis einer anderen Kultur zu rechtfertigen, Minderjährige zu ermutigen, ihr Geschlecht zu wechseln, und Männern eine Entschuldigung zu liefern, in Frauenumkleideräumen »an ihren Schwänzen herumzuspielen«.

Burchills unerbittliche Haltung unter anderem gegen Transaktivist*innen und den Islam erinnert an Alice Schwarzer und die Gründe, warum diese in linken und netzfeministischen Kreisen inzwischen so schlecht beleumundet ist. Anders als Schwarzer bedient sie sich für ihre Argumentation aber eines derben und beleidigenden Tonfalls und das wahrscheinlich auch, um die eigene Autorität als Angehörige der Working Class zu rechtfertigen.

Ihre Angriffe auf die Woken kann man mithin auch als Verteidigung einer spezifischen Kultur verstehen, für die eine junge, akademisch geprägte Linke maximal Befremden aufbringt, wenn sie denn überhaupt Interesse an ihr zeigt. In gewisser Weise betreibt Burchill also selbst Identitätspolitik. »Aufgrund meiner Herkunft musste ich mich nie anstrengen, nicht rassistisch zu sein; ich hatte mir nie genug Gedanken darüber gemacht, um mich darum zu sorgen – das ist etwas für Leute, die Zeit haben, Leute, die zur Uni gehen.« Der dezidierte Antirassismus der Woken, ihre Selbstbefragung und das ständige Misstrauen anderen gegenüber sind ihr nicht nur fremd, sondern auch verdächtig.

Der Streit zwischen altlinken »Boomern« und Woken ist auch ein Generationenkonflikt. Die Alten führen ihn so unerbittlich, weil sie um ihr Weltbild bangen. Und die Aggressivität der Jungen mag auch daher rühren, dass sie in vielen westlichen Gesellschaften aufgrund der demografischen Entwicklung institutionell so wenig Einfluss haben, dass sie auf anderen Feldern umso entschiedener auftreten.

Davon abgesehen tragen die älteren Linken natürlich selbst ein gehöriges Maß an Schuld daran, dass progressive Kräfte sich heute nicht mehr vornehmlich für soziale Gerechtigkeit einsetzen, haben ihre Mütter und Väter die Hoffnung auf eine solche doch bereits kampflos aufgegeben, als Bill Clinton, Tony Blair und Gerhard Schröder den politischen Einfluss auf die Wirtschaft sausen ließen und dies als modernes gerechtes Projekt verkauften. Es ist bezeichnend, wie wenig sich Neiman und Burchill für die Frage interessieren, warum das woke Denken sich so mühelos ausgebreitet hat. Man könnte auf den Gedanken kommen, sie wollten mit ihrer vehementen Gegenwehr vom Versagen der eigenen Generation ablenken.

Susan Neiman: Links ist nicht woke. A. d. amerik. Engl. v. Christiana Goldmann. Hanser Berlin, 176 S., geb., 22 €.
Julie Burchill: Willkommen bei den Woke-Tribunalen: Wie #Idenität fortschrittliche Politik zerstört. A. d. Engl. v. Christoph Hesse. Edition Tiamat, 376 S., br., 34 €.

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