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Unbeirrt und ungebrochen
Die Juristin Virginia Laparra hofft nach der Wahl des neuen Präsidenten Bernardo Arévalo auf einen Wandel in Guatemala
Früchte, gesundes Essen und das Wandern rund um Quetzaltenango hat Virginia Laparra neben ihrer Familie am meisten vermisst in den rund 20 Monaten, die sie im Gefängnis saß. Bis zu ihrer Verhaftung war die 44-Jährige die dritthöchste Juristin in Guatemala. Die Staatsanwältin wurde Opfer eines korrupten Systems, war eine politische Gefangene, wie Amnesty International erklärte. Für ihre Freilassung hatten sich auch UN-Organisationen engagiert, aber ohne Erfolg: Laparra wurde am 23. Februar 2022 auf den Stufen zu ihrem Büro in Guatemalas zweitgrößter Stadt Quetzaltenango festgenommen und war bis zum 4. Januar 2024 gefangen, davon die meiste Zeit in Isolationshaft auf dem Militärstützpunkt Mariscal Zavala in Guatemala-Stadt. Bis eine Strafkammer des Obersten Gerichtshofes ihre Freilassung veranlasste.
Virginia Laparras ist zwar auf freiem Fuß, allerdings steht sie weiterhin unter Hausarrest, da noch ein weiteres fragwürdiges Verfahren gegen sie läuft. Aber immerhin: Zu Hause zu sein, das ist für die quirlige Frau mit dem langen, dunklen Haarschopf und der markanten, großen Brille eine Erleichterung. 20 Monate war sie von ihren beiden Töchtern, die elf und 16 Jahre alt sind, ihrem Mann und der Familie getrennt. Das war für sie ein Schock. Auch ihre Kolleg*innen von der Staatsanwaltschaft gegen Straflosigkeit, die Korruptionsfälle behandelt, hat sie nicht gesehen. »Das, was mit mir geschehen ist – dass man mich für nichts, für ein absurdes Konstrukt inhaftiert hat –, das darf niemandem passieren«, sagt Laparra und lässt die Tränen laufen. Sie, die selbst Juristin ist, weint, weil sie wütend und empört ist. Und weil sie viele schlimme Erinnerungen an ihre Haftzeit hat.
23 Stunden war sie jeden Tag eingesperrt. Lediglich eine Stunde Freigang hatte sie. Ansonsten war sie komplett auf sich gestellt in einer kleinen Zelle mit einem Fenster von kaum mehr als 20 mal 30 Zentimeter. Nicht einmal die Wärter*innen durften mit ihr sprechen. Der Grund für dieses Martyrium war ein Ermittlungsverfahren, das Laparra nach Rücksprache mit ihrem damaligen Vorgesetzten eingeleitet hatte. Es richtete sich gegen den Richter Lesther Castellanos, der geheime Informationen über einen Korruptionsfall herausgegeben haben soll.
Castellanos gehört dem korrupten Klüngel aus Richter*innen, Staatsanwält*innen und Justizangestellten an, die in den vergangenen Jahren das Justizsystem auf den Kopf gestellt haben. Das Netzwerk wird oft »Pakt der Korrupten« genannt. Es hat ein einigermaßen unabhängiges, leidlich transparentes, aber kalkulierbares Rechtssystem in rekordverdächtigem Tempo umgewandelt. Bis alles nach der Pfeife einer korrupten Elite aus Politik, Wirtschaft, Militär und weiteren dubiosen Kreisen tanzte.
Kopf dieses Systems ist María Consuelo Porras. Sie ist die Generalstaatsanwältin Guatemalas, und ihr Name steht genauso auf der »Lista Engel« wie die ihrer wichtigsten Handlanger*innen. Auf der von den USA geführten Aufstellung landen die Namen derjenigen, die in Mittelamerika antidemokratisch und in aller Regel korrupt agieren: Politiker*innen, Justizangestellte wie Porras, aber auch Unternehmer*innen und Militärs. Sie werden mit Einreiseverboten belegt und dürfen in den USA nicht geschäftlich aktiv werden. Das gilt auch für den besagten Richter Lesther Castellanos. Der hat, nachdem Laparra gegen ihn vorgegangen war, 2021 den Spieß umgedreht und seinerseits die Juristin wegen Amtsanmaßung angezeigt. Laparra wurde zu einer vierjährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt, die von der zuständigen Richterin Oly González wegen mutmaßlicher Flucht- und Verdunkelungsgefahr in eine Haftstrafe umgewandelt wurde.
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»Absurd« sei das, sagt die unbequeme und überaus konsequent auftretende Laparra. Sie wusste schon lange, dass sie unter Beobachtung steht, genauso wie Dutzende andere Justizmitarbeiter*innen. Alle, die diesem Klüngel gefährlich werden könnten, mussten auf der Hut sein. Jeder Fehler würde zu Sanktionen führen, das war ihr durchaus bewusst. Aber lange hatte sie es nicht für möglich gehalten, dass Rechtsgrundsätze schlicht umgedreht werden können. Jeder und jede habe das Recht, seine oder ihre Unschuld zu beweisen, sagte María Consuelo Porras beispielsweise. Mit diesem Satz kehrt die ranghöchste Juristin des Landes die Unschuldsvermutung bis zum Beweis des Gegenteils einfach um.
Diese Beugung geltender Rechtsgrundsätze ist Virginia Laparra zum Verhängnis geworden. Die von ihr erbrachten Beweise dafür, dass sie nicht eigenmächtig ein Verfahren gegen Richter Castellanos angestrengt habe, sondern sich das Einverständnis ihres damaligen Vorgesetzten Juan Francisco Sandoval eingeholt habe – von einer Amtsanmaßung könne also keine Rede sein –, wurden von der damals zuständigen Richterin nicht akzeptiert.
Eine solche Rechtsbeugung ist kein Einzelfall in Guatemala. Laut Zählung des Online-Portals »Agencia Ocote« wurden mindestens 86 ehemalige Justizangestellte, Anwält*innen, aber auch Journalist*innen wie der vielfach international ausgezeichnete Gründer der kritischen Tageszeitung »El Periódico«, José Rubén Zamora, aufgrund fadenscheiniger Anklagen inhaftiert oder flohen im letzten Augenblick ins Exil.
Der Fall von Virginia Laparra wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt, Presse war nicht zugelassen, Prozessbeobachter waren unerwünscht. Für die Staatsanwältin, die zur politischen Gefangenen wurde, war es lange schwer zu ertragen, dass ein funktionierendes Rechtssystem einfach missachtet wurde. Dabei diente ihre Anklage als eine Art negativer Präzedenzfall. »Schaut! Das, was Virginia Laparra passiert ist, kann auch euch passieren, lautet die Botschaft«, kritisiert sie und löffelt Ananasstücke aus einer ihrer geliebten Fruchtsuppen am Küchentisch in ihrem Haus am Rande des Stadtzentrums von Quetzaltenango. Schräg gegenüber steht ein Krankenhaus. Dort arbeitet ihr Mann, der in ihrer 20-monatigen Abwesenheit sich um die Töchter gekümmert hat, bis er seine Frau schließlich Anfang Januar aus dem Gefängnis in Guatemala-Stadt abholen konnte. Dort war Laparra die ganze Zeit inhaftiert, was Besuche von der Familie erschwerte. Jetzt hilft ihr das aber dabei, sich nicht dauernd an die extrem harte Haftzeit erinnern zu müssen.
Für ihre Verurteilung macht sie ein ganzes Netzwerk innerhalb der Justiz um María Consuelo Porras und ihre einflussreichen Auftraggeber*innen verantwortlich. Dieses elitäre Bündnis hat ab 2015, als die Ermittlungen der UN-Kommission gegen Straflosigkeit den Machteliten bedrohlich nahe rückten, einen Gegenangriff gestartet. Damals musste Präsident Otto Pérez Molina wegen überbordender Korruptionsbeweise zurücktreten und seine Vizepräsidentin Roxana Baldetti wurde verhaftet. Für Guatemala war das eine Zäsur. Aber die alte Machtelite hatte sich reorganisiert und attackierte die unabhängigen Strukturen im Justizapparat. »So etwas sollte nie wieder passieren, das sollte die Botschaft sein«, meint Laparra. »Wir sollten eine Lektion erhalten, begreifen, dass der ›Pakt der Korrupten‹ und dessen Mitglieder unantastbar sind.« Im September 2019 musste die UN-Kommission das Land verlassen, unter anderem weil die USA und auch die Europäische Union nicht auf deren Verbleib drängten. Die Folge war ein beispielloser Rollback im Justizsystem.
Doch die Zeiten könnten sich jetzt ändern. Bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr setzte sich der linke Kandidat Bernardo Arévalo durch und trat am 15. Januar das Amt an. Als Außenseiter hat er die Wahl gewonnen, weil er ankündigte, die Korruption im Land konsequent zu bekämpfen. Die Justiz als Schlüsselsektor will er reformieren und alle anderen unterwanderten Institutionen auch. Das Kabinett lud in einem ersten Schritt María Consuelo Porras am vergangenen Montag zum Rechenschaftsbericht vor, damit soll die mächtige Generalstaatsanwältin unter Druck gesetzt werden. Die neue Regierung sucht nach Möglichkeiten, sie zu entmachten. Hinter verschlossenen Türen wird bereits über ein Gesetz diskutiert, dass sie mit einer Parlamentsmehrheit, die sich hinter Arévalos Partei Movimiento Semilla zusammengefunden hat, von ihrem Amt enthoben werden könnte.
Das würde Virginia Laparra natürlich begrüßen. Sie wäre auch bereit, in der Justiz wieder aktiv zu werden, sagt sie. Doch bis es dazu kommt, müssen die beiden gegen sie weiter laufenden Verfahren erst einmal mit einem Freispruch enden. Das kann in Guatemala dauern, schließlich gibt noch das korrupte Netzwerk um Porras und ihre Handlanger im Justizsektor den Ton an.
Das könnte sich aber in den nächsten Monaten ändern. Denn es gibt noch einen anderen Weg, wie Porras den Posten räumen könnte. Turnusmäßig steht die Nominierung des Personals für die höchsten Gerichte im Land an. Da könne neues, ehrliches und kompetentes Personal auf die Schlüsselpositionen nachrücken, hofft Laparra. »Wir brauchen eine Säuberung der Strukturen, in den Gerichten und in der Generalstaatsanwaltschaft.« Nicht die Strukturen seien schuld an der Misere, sondern das korrupte Personal.
Einen Wandel in der Justiz wünscht sich auch das Gros der Bevölkerung, dafür wurde Präsident Arévalo schließlich gewählt. Und viele wären wohl auch dafür, dass Laparra wieder eine gewichtige Rolle in der Justiz spielt. Das wolle sie aber nicht in einer leitenden Funktion, sagt sie. Denn dafür müsste sie in die guatemaltekischen Hauptstadt gehen, wo sie inhaftiert war. Sie agiert aber lieber im Hintergrund – in Quetzaltenango.
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